Haben oder Sein

Über die Lust, weniger zu konsumieren und die Alternativen zum Discount


VON SYLVIA MEISE


In einer Discountgesellschaft ist Konsumverzicht kein Thema. Konsumverzicht gehört nicht (mehr) zu unserer Kultur. Schon Kinder definieren sich über Dinge, die sie haben. Und überraschen ihre Eltern mit immer grenzenloseren Wünschen. Wer sich das nicht leisten kann, wird häufig ausgegrenzt. Shop­ping und Schnäppchenjagen zählen das ganze Jahr über zur selben Freizeitkategorie wie Joggen oder Fernsehen. Trotzdem haben manche genug. Nichts wollen, nichts müssen, nur sein – so lautet ihr Credo. Diese freiwillige Selbstbeschränkung leisten sich aber vor allem diejenigen, die sich alles leisten können. Für sie liegt der Reiz im Nicht-Haben – oder in freier Zeit.

Oft wird auch das zum Geschäft: „Kein Schnick­schnack” lautet eine schon nicht mehr so neue Geschäftsidee. Das japanische Kaufhaus Muji etwa bietet Pappkartons zum Sitzen, schlichtes weißes Porzellan und plant Handschuhe und Taschen zum Selbst-Zusammennähen. Die italienische Designerin Nicoletta Branzi aus Mailand hat die Schnittmuster entworfen und dem eher noblen Publikum des Mailänder Salons gezeigt. Die simple Idee war ein voller Erfolg. Während einer Zürcher Handels­tagung, die nach neuen Wegen zum Wohlstand suchte, präsentierte sie zusammen mit der Ge­schäfts­führerin von Muji dem Managerpublikum ihre Pilotstücke. Es sah aus wie Nähen für Kinder mit hässlichen Stoffstücken und noch hässlicheren Ergebnissen. Die Gedanken der Designerin jedoch hingen nicht am Ergebnis, sondern am Tun: „Während man diese Arbeit tut, gehen einem viele Gedanken durch den Kopf. Dinge haben deswegen manchmal einen anderen Wert als den, den wir ihnen zuweisen”, lächelte sie. Den anwesenden Managern gab die Mailänder Professorin noch eine Handwerkerweisheit mit auf den Weg: „Leute, die anfangen, ihre Hände zu benutzen, fangen an zu verstehen – haben mehr Vertrauen zu sich selbst.”

Die Idee dahinter ist der Weg des Menschen zu sich selbst, zur Ruhe, zur Weisheit. „Sowohl der Konsum als auch seine freiwillige Beschränkung stellen darauf ab, die Ressourcen der Welt im Dienste der Bedürfnisbefriedigung zu nutzen und so ein Höchstmaß an Wohlfahrt zu erreichen”, schreibt der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Guy Kirsch in seinen ökonomischen Betrachtungen zur Kunst der Askese. Geistige Läuterung ziele darauf, „das Unbehagen in und an der Welt zu beenden und Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen, gar nicht erst aufkommen zu lassen”.

Doch ist Konsumverzicht des Rätsels Lösung? Soll man auf T-Shirts verzichten, weil sie unter un­würdigen Bedingungen entstehen? Keinen Fisch mehr kaufen wegen der Überfischung der Meere und keine Orangen wegen der Monokultur in Argen­ti­ni­en? Das kann man machen, nur hilft es nicht immer. Nicht der Näherin in Bangladesch und nicht den Land­wirten in Argentinien – vielleicht noch dem Fisch­bestand. Die Näherin und der Landwirt profi­tieren nicht von unserem Verzicht. Eher schon durch den Kauf von Produkten, die in dieser Hinsicht „sauber” sind. Die gut eingeführten Gütesiegel Bio, Fairer Handel, Saubere Kleidung oder Rugmark für Teppiche ohne Kinderarbeit geben Orientierung. Wo es kein Siegel gibt, hilft der gesunde Menschenver­stand: Wer produziert die Ware unter welchen Bedingungen für Mensch und Natur? Sagt der Preis die Wahrheit? Was bewirkt das Siegel?

Dazu braucht man gar nicht in die Ferne zu schweifen. Exorbitanten Preisverhau und Vernebel­ungs­taktiken gibt es auch vor der eigenen Haustür. Wenn Bauern in die Preisfalle von Discountern geraten, haben sie und ihre Tiere nichts zu lachen. Die „Produktion” eines Liters Milch kostet den Bauern zwischen 30 und 32 Cent, die Molkereien aber zahlen nur knapp 30 Cent dafür. Preise wie vor 30 Jahren. Will der Bauer seinen Großauftrag nicht loswerden, muss er die Klappe halten und seine Tiere noch billiger ernähren. Ekelhafte Skandale sind vorprogrammiert. Wer die Nase noch tiefer in die Landluft steckt, dem kann gründlich der Appetit vergehen: Da werden Babyputen die Schnäbel kupiert, damit sie sich in der Enge nicht blutig hacken; Hähnchen so gezüchtet, dass sie vor Brust nicht mehr stehen können; und auch die Milchkuh wird getunt von rund 3000 Litern im Jahr auf über 6000. Ein wirklich aufgeklärter Konsument muss viel wissen über diejenigen Lebensmittel oder Produkte, die er essen oder im Alltag verwenden will. Zum Beispiel, was konventionelle „Bodenhaltung” oder „Käfighaltung” bedeutet. Eben nur ein klitzekleines bisschen mehr Platz und dass bei beiden Variati­onen das Licht Tag und Nacht eingeschaltet bleibt, die Tiere also keine Ruhe haben. In den riesigen Legehallen, die auf dem Eierkarton natür­lich nicht abgebildet sind, kann kein Bauer jedes lebendige Tier im Auge behalten, geschweige denn jedes tote. Bio heißt dagegen: Nachts ist das Licht aus, es gibt besseres Futter, weniger Tiere, weniger Eier, und deswegen sind Hühner wie Eier eben teurer.

Bleibt die Frage: Wie viel Qualität will ich – und kann ich – mir leisten? Eine existentielle Frage: für uns, für die vielen Menschen auf er anderen Seite des Ladentisches – und für die Natur.



aus: Publik-Forum Nr. 23 • 2005

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