KOLUMNE

Wahnsinn!

 
 
ALSO...  ich denke nicht gern in so alttestamentarischen Dimensionen wie Rache und Auge um Auge, Zahn um Zahn. Aber die Sache mit dem Rinderwahnsinn erscheint mir wie eine gerechte Rache der geschundenen Kreatur, obwohl nun gerade Tiere von Rache gar nichts wissen - sie müssen wohl erst so mißbraucht, gequält und ausgebeutet werden, daß sie dabei zerstört werden und uns in diese Zerstörung mitreißen. Ich habe durchaus noch die Bilder von Ochsen mit gebrochenen Beinen vor Augen, auf die die Männer im Schlachthof mit Eisenstangen einprügeln, weil die Tiere nicht mehr die letzten Schritte zum Schlachten gehen können. Da bekommen die Kühe, die in jämmerlicher Massenhaltung eingepfercht sind, kaum Gras mehr zu fressen, was ihre natürliche Nahrung wäre, sondern Kadavermehl, billig zermahlene andere geschundene Kreaturen. Können sie sich nur noch mit einem Wahnsinn „wehren”, der sich auf uns überträgt? Grimmig denke ich, wie  recht uns das geschieht, grimmig denke ich, nun endlich wird vielleicht auch der letzte Trottel begreifen, was wir uns selbst und der Welt antun, wenn fast jeder jeden Tag Fleisch auf seinen Teller häufen muß. Sehen Sie sich die Betriebskantinen und die Gasthäuser doch an - Schnitzel, Kotelett, Roulade, Steak, Gulasch, Frikadellen, sogar noch auf dem Salat Putenbruststreifen, denn Salat allein, das kann ja einfach nicht sein. Wer je gesehen hat, wie verängstigte Puten zusammen- gepfercht auf blutig-krüppeligen Füßen in ihrer eigenen Scheiße stehen (bei Putenmast: Ausmistung zweimal jährlich, also einmal pro Putenleben), der kriegt kein Stück Putenfleisch mehr runter. Jetzt endlich, jetzt, wo diese  schrecklichen Bilder von erkrankten MENSCHEN (und, wohl gemerkt: weißen Westmenschen) durch die Presse gehen, jetzt endlich setzt - vielleicht, hoffentlich! - ein Umdenken ein, wir brauchen   ja wohl immer sehr, sehr lange für alles Aber wenn die Welt kaputtgeht, wenn es kein klares Wasser und keine reine Luft mehr gibt,   wenn auch der letzte Billigtanker sein Öl in unsere Meere geschüttet   hat und wenn ganze Landstriche durch Abholzen öde und verwüstet sind, wenn Völker von Seuchen hingerafft werden und die anderen nur noch in Schutzpanzern ins Freie können, weil es keine Ozonschicht mehr gibt, dann vielleicht  wird ja irgendeiner kommen und sagen: „Oh, haben wir da wohl  etwas falsch gemacht?” Wir sind fett, wir haben Stoffwechselkrankheiten, wir machen Diäten und Fastenkuren, aber wir futtern unseren Teller leer, Fleisch muß möglichst oft drauf sein. Das Elend der Tiere, ihre gnadenlose Ausbeutung, Mißhandlung und Degradierung zur Ware hat uns nur selten gerührt. Jetzt ist der Preis zu zahlen. Mit vollem Recht. Und irgendwann schafft es auch die stumme Natur, auf sich aufmerksam zu machen. Dann aber ist es zu spät. Es gibt Tage, an denen ich sehr froh bin, schon über 50 zu sein.

Elke Heidenreich

 
aus: Brigitte 10/1996
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