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WORTE
vom 07.-13. November 2004
ausgewählt von Pfarrer Roland Spur,
Esslingen, Evangelische Kirche
Sonntag, 07. November 2004
Recht auf Leben
»Ich bin der Überzeugung, dass es – ebenso wie mathematische
Grundregeln – universelle, vom Menschen unabhängige Rechte und Werte
gibt, allen voran das Recht auf Leben.
Das Dilemma ist, wo stehen sie geschrieben? Und wer anders könnte sie
verleihen als der Mensch?
Wir mögen akzeptieren, dass außerhalb unsrer Wahrnehmung Rechte und Werte
existieren, aber wir können uns nicht außerhalb unserer Wahrnehmung
stellen. Es ist, als solle die Katze darüber befinden, ob Mäuse gefressen
werden dürfen oder nicht.«
Frank Schätzing, Der Schwarm; Seite 657; Köln 2004, Kiepenheuer &
Witsch
Montag, 08. November 2004
Begreifen
Ein Hund sieht in einem Menschen nur die Macht, der er sich
unterordnet, nicht den Geist. Menschliches Verhalten mutet ihm sinnlos an,
weil wir auf Grundlage von Überlegungen handeln, die seine Wahrnehmung
überfordern.
Wiederum werden wir Gott, falls es ihn gibt, nicht als Intelligenz
wahrnehmen können, weil sein Denken auf einer Gesamtheit von
Überlegungen fußen dürfte, deren Komplexität sich uns bei weitem
entzieht. Als Folge ist Gott chaotisch in unseren Augen und mithin kaum
der Richtige, um die ortsansässige Fußballmannschaft gewinnen zu lassen
oder Kriege zu vereiteln.
Woraus sich auch zwingend die Frage ableitet, ob Gott seinerseits
überhaupt in der Lage ist, uns auf unserer Substufe als Intelligenz
wahrzunehmen. Vielleicht sind wir ja nur ein Experiment in einer
Petrischale...
Frank Schätzing, Der Schwarm; Seite 903; Köln 2004, Kiepenheuer &
Witsch
Dienstag, 09. November 2004
Nicht gewusst?
»Wahrlich, Gott, der Ewige wohnt an dieser Stätte. Und ich habe es
nicht gewusst.«
Inschrift an der Stelle, wo das alte jüdische Gotteshaus der Gemeinde
Gailingen am Bodensee solange gestanden hat, bis im November 1938 diese
Synagoge verwüstet, gesprengt und niedergebrannt wurde. Die Abbruchkosten
mussten "natürlich" die Juden bezahlen.
Für diese Inschrift, in Erz gegossen, zweisprachig, hebräisch und
deutsch, nahm man einen Vers aus dem Alten Testament, aus der jüdischen
Bibel:
Achên yêsh adonáy bemakôm hasê we-anokhí lô
yadà’ti.
»Wahrlich, Gott, der Ewige wohnt an dieser Stätte. Und ich habe es nicht
gewusst.«
Mittwoch, 10. November 2004
Fragen
Leon Anawak schwieg. »Sind Sie nicht manchmal entmutigt?« fragte er
Crowe. »Wer ist das nicht. Dafür gibt’s Zigaretten und Videofilme.«
»Und wenn Sie ihr Ziel erreichen?«
»Gute Frage, Leon.«. Crowe machte eine Pause und strich mit den Fingern
gedankenverloren über die Tischdecke. »Im Grunde frage ich mich seit
Jahren, was eigentlich unser wirkliches Ziel ist. Ich glaube, wenn ich die
Antwort wüsste, würde ich aufhören zu forschen. Eine Antwort ist immer
das Ende der Suche.
Vielleicht quält uns die Einsamkeit unserer Existenz. Die Vorstellung,
ein Zufall zu sein, der sich nirgendwo wiederholt hat.
Vielleicht wollen wir aber auch den Gegenbeweis erbringen, dass es
niemanden außer uns gibt und wir den besonderen Platz in der Schöpfung
einnehmen, der uns angeblich gebührt. Ich weiß es nicht. Warum
erforschen Sie Wale und Delphine?«
»Ich bin ... neugierig.«
Frank Schätzing, Der Schwarm; Seite 52; Köln 2004, Kiepenheuer &
Witsch
Donnerstag, 11. November 2004
Sucht – sein zu wollen wie Gott
Senator Johnny Iselin verfiel einer hilflosen Sucht nach öffentlicher
Beachtung, wie alle Politiker, und ihr Entzug hätte ihn töten können.
Es kam so weit, dass er seinen Namen in den Zeitungen sehen musste, und
dann zwischen den Radiomeldungen auch im Fernsehen. Das bedeutete für
ihn, dass er tatsächlich existierte und nicht, wie er immer fürchtete,
nur ein Gebilde seiner eigenen oder Gottes Phantasie war, das verschwand,
wenn das Licht ausging.
Das war alles, was Johnny dachte, wenn er über die Menschen
hinwegschaute, das Gesicht zerknittert vor lauter Schicksalsempfindung.
Den Hundeblick, mit dem er die Leute betrachtete, pflegten sich seine
Betrachter schon so zurechtzudeuten, dass sie darin alles fanden, was sie
suchten.
Johnny träumte davon, dass sein Ich so groß und gewaltig über ihnen
schweben müsste, dass er wie ein riesiger Schatten die Sonne verdeckte.
Dieser Gedanke erfüllte ihn so, dass er meinte, in seinem Blick würde
der Kosmos auf sie hernieder schauen.
Richard Condon: Der Manchurian Kandidat; Heyne-Verlag 2004, Seite 87 f.
Freitag, 12. November 2004
Suche
Du hast keinen vollendet erschaffen. Schritt für Schritt werden wir
Menschen. Du fehlst uns so oft, daher machen wir Fehler!
Wir wagen nicht, an Dein Dasein zu glauben. Kaum entdecken wir Dich in den
Sternstunden des Lebens, laufen wir von innen nach außen.
Du bist leise geworden, wir sind zu laut. Du drängst uns nicht.
Ab und zu lässt Du uns wissen durch Zeichen und Bilder, durch Blicke der
Kinder, durch Gesänge und Gesten, durch Glück und durch Unglück: Wir
sind stets am Anfang des Lebens.
Du weißt, wie sehr wir Dich brauchen, um lieben, um leben zu können.
Ein Gebet von Martin Gutl
Samstag, 13. November 2004
Erkenntnis
»Menschen verkennen das Vergangene und ignorieren das Kommende«,
sagte Johanson. »Unsere ganze Existenz ist fixiert auf den Einzelnen und
dessen Hier und Jetzt.
Höhere Einsicht opfern wir persönlichen Zielen.
Wir können uns nicht über den Tod hinaus erhalten, also verewigen wir
uns in Manifesten, Büchern und Opern.
Wir versuchen, uns der Geschichte einzuschreiben, hinterlassen
Aufzeichnungen, werden weitererzählt, missverstanden, verfälscht, treten
ideologische Lawinen los, lange nachdem wir tot sind.
Wir sind derart versessen, uns selber zu überdauern, dass unserer
geistigen Ziele selten mit dem übereinstimmen, was der Menschheit als
Ziel dienlich wäre.«
»Darum zerstören wir unseren Planeten«, sagte Crowe. »Weil wir nicht
erkennen, was wir zerstören.
Frank Schätzing, Der Schwarm; Seite 865; Köln 2004, Kiepenheuer &
Witsch
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