WORTE vom 12.-18. September 2004

 

ausgewählt von Pfarrer Roland Spur, Esslingen, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 12. September 2004

mein Bekenntnis

Ich glaube an Jesus Christus, der Recht hatte, als er an der Veränderung aller Zustände arbeitete und darüber zugrunde ging.
An ihm messend erkenne ich, wie unsere Intelligenz verkrüppelt, unsere Phantasie erstickt, unsere Anstrengung vertan ist, weil wir nicht leben wie er lebte.
Jeden Tag habe ich Angst, dass er umsonst gestorben ist, weil er in unseren Kirchen verscharrt ist, weil wir seine Revolution verraten haben, in Gehorsam und Angst vor den Behörden.
Ich glaube an Jesus Christus, der aufersteht in unser Leben, dass wir frei werden von Vorurteilen und Anmaßung, von Angst und Hass und seine Revolution weitertreiben auf sein Reich hin.

Von Dorothee Sölle

 

Montag, 13. September 2004

wach geworden

Der Schwarze
Spät abends kam ein Herr ins Hotel, mit Freunden, alle Betten waren besetzt. Außer einem, doch im Zimmer schlief bereits ein Neger, wir sind in Amerika.
Der Herr nahm das Zimmer trotzdem, – es war nur für eine Nacht – , in aller Frühe musste er auf den Zug. Schärfte daher dem Hausknecht ein, sowohl an der Tür zu wecken als am Bett, und zwar am richtigen, nicht an dem des Schwarzen!
Auf die Nacht nahm man allerhand scharfe Getränke, mit so viel Erfolg, dass die Freunde den Gentleman, bevor sie ihn ins Negerzimmer schafften, mit Ruß anstrichen, und er es nicht einmal merkte.
Wie nun der Hausknecht diesen Herrn geweckt hatte, er rast an den Bahnhof, in den Zug, in die Kabine, sich zu waschen: so sieht er sich im Spiegel und brüllt: "Jetzt hat der Dummkopf doch den Nigger geweckt!"
War der Mann nicht verschlafen? Gewiss, und er war nie wacher als in diesem Augenblick.

Aus: »Spuren«, von dem Philosophen Ernst Bloch

 

Dienstag, 14. September 2004

Frieden, Gerechtigkeit, Hiphop

Alle reden vom Frieden, niemand redet von Gerechtigkeit. Was dem einen der Garten Eden, ist dem anderen die Hölle. Wie viele Finger umklammern schon den Abzug?
Wie lang soll das so weitergehen? Bis wann wird der Mensch zum Hund erniedrigt und der Abgrund übersehen? Wie lange werden Hände Schwerter liebkosen?
Ja, manchmal drückt mich das Leben auf die Knie. Kein Zeichen kommt vom Himmel. Ich sehe Menschen Träume und Hoffnungen leben, Ich sehe Menschen Intrigen und Parolen leben.
Es gibt solche, die fragen und keine Antwort erhalten, andere haben nur Beschwerden und Forderungen, aber alle, alle reden vom Frieden und keiner redet von Gerechtigkeit. Dem einen ist es ein Paradies, dem anderen die Hölle.
Also bleibt man allein, redet an die wand, es ist eh keiner da, mit dem man reden kann. Wenn man nur daran denkt, dass wir alle eins sind, passt plötzlich alles zusammen.
Denn alle reden vom Frieden, niemand von Gerechtigkeit.
»Kulam medabrim al Schalom, af echad lo medaber al Zedek.«

Hiphop aus Israel, von Mook E.

 

Mittwoch, 15. September 2004

Nächstenliebe

Ein Wort von Ezra Pound, dem amerikanischen Schriftsteller (1885 – 1972).
»Nächstenliebe findet man zum Beispiel bei Menschen, die Dienstvorschriften nicht einhalten.«

 

Donnerstag, 16. September 2004

es hat noch Platz

Ein Dorfbewohner trifft vor der Waschstraße den Pfarrer. "Der fährt noch? Donnerwetter. Mit dem fahren Sie? Naja, ist Ihre Entscheidung. Äh, die Beerdigung da neulich, der Karl, der alte Kalle aus’m Vorstand vom Sportverein, was Sie da so g’sagt haben, und dann am Sarg und so, Herr Pfarrer, das haben sie gut..."
"Danke, Sie sind sein Freund gewesen?"
"Ja, oder nein. Wir haben bloß ab und zu... wir sind manchmal noch... Sie können einen aber auch fragen! Also nichts für ungut, aber dass ich nicht in die Kirche komme, wissen Sie, ehrlich gesagt, da sind mir zu viele Heuchler."
Der Pfarrer schaut ihm freundlich in die Augen: "Oh, für einen mehr wäre schon noch Platz."

 

Freitag, 17. September 2004

Mein Herz

Mein Herz ist empfänglich geworden für jede Form. Wie eine Wiese, auf der friedlich Gazellen weiden. Es ist wie ein Haus der Religionen.
Mein Herz ist ein Konvent christlicher Mönche. Die Kaaba der Pilger. Sein Spielfeld verlangt nach den Tafeln der Thorah. Und der Schrift des Koran.
Ich bin zutiefst verpflichtet einer Religion, die die Liebe liebt. Ihr folge ich. Das ist mein Weg. Das ist mein Bekenntnis. Das ist mein Glaube.

Ein Gedicht des spanisch-andalusischen Dichters Ibn al-’Arabi (1165 – 1240), in eigener Übersetzung

 

Samstag, 18. September 2004

Morgen

Ein Rabbiner hat einst seine Schüler gefragt, wie man eigentlich die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt.
»Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schafe unterscheiden kann?« fragt einer der Schüler.
»Nein«, sagt der Rabbi.
»Ist es, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann?« versucht es ein anderer.
»Nein«, sagt der Rabbi.
»Aber wann ist es dann?« haben die Schüler gefragt.
Es ist dann«, antwortete der Rabbi, »wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und deine Schwester oder deinen Bruder siehst.
Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.«

eine Jüdische Tradition