WORTE vom 28.03.-03.04.2004

 

ausgewählt von Pfarrer Helmut Siebert, Simmern/Hunsrück, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 28. März 2004

Kirche

Ich möchte einen Grund nennen, warum ich die Kirche brauche. Sie ist ein Schutzraum für Geschichten von gelingendem Leben. Die Kirche pflegt die Tradition, in der solche Geschichten erzählt werden. Ich muss mich nicht immer nur auf meine eigene Hoffnung verlassen. Denn ich gehöre zu dieser Einrichtung, in der seit zweitausend Jahren die Geschichte der Hoffnung weitergegeben wird. Zugegeben: Manchmal wird diese Hoffnung von der Kirche selbst etwas verdunkelt. Aber immer wieder gibt es Menschen, die die alte Hoffnung ausgraben und ans Licht zerren: Geschichten wie die von der Auferstehung der Toten, die ebenso unglaublich ist wie unentbehrlich.

Dorothee Sölle

 

Montag, 29. März 2004

Toleranz

Der einzige Wert, der noch wichtig und unantastbar zu sein scheint, ist der Wert der Toleranz. Die größte Sünde ist es, anderes auszugrenzen oder auszuschließen. Maßstäbe, nach denen man etwas falsch oder böse finden könnte, gibt es nicht mehr. Das Entweder-oder einer Entscheidung weicht dem Sowohl-als-auch. Eine Auseinandersetzung soll möglichst nicht mehr stattfinden. "Anything goes" – alles ist möglich. Himbeereis und Vanilleeis schließen sich doch auch nicht aus. Warum sollte dann ein Unterschied bestehen zwischen einer Firma, die Giftgas exportiert, und einer Firma, die Kinderbettchen herstellt.

Dorothee Sölle

 

Dienstag, 30. März 2004

Träume

Idealismus und Utopien wirken heute schnell lächerlich. Der Traum vom täglichen Brot für alle Menschen ist nicht auf der Höhe des postmodernen Bewusstseins. Die eintausend Kinder, die auch heute wieder allein in Brasilien verhungern werden, haben keinen News-Wert. Mit einem milden Zynismus versuchen wir, uns vor der Welt zu schützen. Aber auch diese Abschreckung wird nicht ewig funktionieren: Oder meinen Sie wirklich, das, was jetzt ist, sei schon alles gewesen? Glaube, Hoffnung und Liebe haben etwas Unausrottbares an sich. Ich kann auch einfach sagen: Sie kommen von Gott.

Dorothee Sölle

 

Mittwoch, 31. März 2004

Luxus

Unser größter Luxus ist unsere Hoffnungslosigkeit. Von diesem Luxus haben wir so viel, dass wir daran beinahe ersticken: weil ich mir jeden Tag neu klarmache, wie schlimm diese Welt ist und dass man in ihr eigentlich gar nicht mehr glücklich leben kann. Wir leben wie die Zuschauer am Kreuz von Karfreitag: Wir sehen alles, stehen aber lieber etwas entfernt vom Geschehen, damit wir die Schreie des Gefolterten nicht so laut hören und den Gestank nicht so penetrant riechen. Wir kennen uns eben aus in dieser schrecklichen Welt. Je besser, desto hoffnungsloser. Die meisten Menschen können sich diesen Luxus nicht leisten.

Dorothee Sölle

 

Donnerstag, 01. April 2004

Hoffnung

Was ist eigentlich Hoffnung? Ach weißt du, Hoffnung – Hoffnung: Das ist wie guter Jazz, wie gute Jazzmusik. Die steht nie ganz oben auf den Hitlisten. Die ist nie so richtig populär, aber doch immer irgendwie da. Die ist nicht kaputtzukriegen – diese Musik mit dieser Hoffnung: ein bisschen schöner und ein bisschen intelligenter zu sein als das, was wir täglich zu hören bekommen.

Dorothee Sölle

 

Samstag, 03. April 2004

Jesus

Wer ist eigentlich Jesus? Vergleiche ihn ruhig mit anderen großen Menschen der Geschichte – wie zum Beispiel Sokrates, Rosa Luxemburg oder Gandhi. Jesus hält dem Vergleich stand. Interessanter wird der Vergleich allerdings, wen du Jesus nicht mit anderen Menschen vergleichst, sondern mit dir.

Dorothee Sölle