WORTE vom 18.-24.01.2004

 

ausgewählt von Pfarrer Helmut Siebert, Simmern / Hunsrück, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 18. Januar 2004

Erziehung 1

Ich wurde nicht erzogen, sondern geliebt. Bedingungslos und zärtlich. Wahrscheinlich wäre ich von meinen Eltern verwöhnt worden, wenn sie genug Geld gehabt hätten. Zum Glück hatten sie es nicht. Anstelle von Geld und Geschenken gab es bei uns Geschichten. An langen Winterabenden erzählte mir meine Mutter Geschichten. Es gab drei Sorten von Geschichten: unwahre, halbwahre und wahre. Ich hörte alle drei Sorten gleichermaßen gern. Die unwahren Märchen waren unterhaltsam, aber irgendwie unpraktisch. Die halbwahren Sagen und Legenden waren spannend, denn sie beschäftigten mich mit der Frage, was daran stimmt und was nicht. Die biblischen Geschichten aber, die machten mich fit fürs Leben, ohne dass ich es merkte.

Christian Nürnberger

 

Montag, 19. Januar 2004

Erziehung 2

Von meinen Eltern bin ich bei den Mahlzeiten erzogen worden. Morgens noch nicht, denn wenn ich zur Schule ging, schliefen sie noch. Aber mittags und abends traf sich die ganze Familie bei Tisch. Und nach dem Essen ging es dann los: Dann unterhielten sich meine Eltern und meine älteren Geschwister über alles, was irgendwie wichtig schien. Als ich noch kleiner war, hörte ich oft zu. Später mischte ich selber mit. Es gab gute Gespräche, mitunter friedliche, und gelacht wurde auch.
Aber selbst im größten Streit wussten wir immer: Jeder konnte sagen, was er wollte, solange er nicht verletzend wurde. Und das Alter spielte keine Rolle, nur die Argumente. Das Wichtigste, was ich fürs Leben gelernt habe, habe ich bei diesen Mahlzeiten gelernt: das Diskutieren, das Streiten, das Widersprechen, das Zuhören-können.

Petra Gerster

 

Dienstag, 20. Januar 2004

Worte 1

Im Anfang war das Wort, sagt die Bibel. Im Anfang war das Wort – und nicht das böse Schweigen. Ja, es gibt viele böse Worte in der Welt – aber doch noch mehr böses Schweigen. Und ein einziges Wort kann alles gut machen. Denn was man sagen und aussprechen kann, das kann nicht ganz und gar böse sein. Nur was verschwiegen werden muss, ist wirklich schlimm. Wenn wir uns Mühe geben, für alles Worte zu finden, wenn Taube hören können und Stumme reden, dann – dann wird vielleicht doch noch alles wieder gut.

Klaus Haacker

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

Worte 2

Meine großen Worte werden mich nicht vor dem Tod schützen. Und meine kleinen Worte werden mich auch nicht vor dem Tod schützen. Überhaupt kein Wort – und auch nicht das Schweigen zwischen den großen und kleinen Worten – wird mich vor dem Tod schützen. Aber vielleicht werden einige von diesen Worten – und vielleicht besonders die kleineren oder auch nur das Schweigen zwischen den Worten – einige andere vor dem Tod schützen.

Erich Fried

 

Donnerstag, 22. Januar 2004

Freundschaft 1

Zwei Mönche wandern eine schmutzige Straße entlang. Als es zu regnen anfängt, versinken ihre Füße im Schlamm. Da treffen sie eine hübsche Frau in einem wunderschönen Kleid. "Komm her", sagt der eine Mönch, "ich helfe dir." Und er nimmt die Frau auf den Arm, umhüllt sie mit seiner Kutte und trägt sie durch den Dreck. Als der Regen aufhört und die Straße besser wird, setzt der Mönch die Frau ab und geht weiter. Der zweite Mönch folgt ihm – und kaum sind die beiden wieder allein, fragt er: "Wir Mönche dürfen doch nichts mit Frauen zu tun haben. Und die, die du getragen hast, war noch dazu besonders hübsch. Das ist gefährlich. Warum hast du das getan?" Da antwortet der andere: "Ich habe die Frau da hinten stehen gelassen; aber du hast sie immer noch im Kopf?"

eine chinesische Legende

 

Freitag, 23. Januar 2004

Freundschaft 2

Halten Sie sich für einen guten Freund oder für eine gute Freundin? Wie viele Freunde haben sie denn zur Zeit? Und halten Sie die Dauer einer Freundschaft für einen Maßstab? Ist es schon vorgekommen, dass Sie überhaupt keinen Freund hatten? Und was tun Sie dann: Senken Sie Ihre Ansprüche an Freundschaft? Hatten Sie auch schon mal ein Tier als Freund, einen Hund zum Beispiel? Und halten Sie die Natur für einen Freund? Was fürchten Sie mehr: das Urteil von Freunden oder von Feinden? Haben Sie eigentlich Feinde, mit denen Sie gerne befreundet wären? Wie groß kann der Altersunterschied in einer Freundschaft sein? Und zum Schluss: Sind Sie sich selber ein Freund oder eine Freundin?

Max Frisch

 

Samstag, 24. Januar 2004

Zeit

Wir genießen, dass die Ladenöffnungszeiten verlängert werden und dass der Pizzaservice uns samstags um zwanzig Uhr das Abendessen bringt. Längst haben wir uns gewöhnt an die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft, die uns an vierundzwanzig Stunden am Tag und an sieben Tagen in der Woche zur Verfügung steht. Geldautomaten, Onlinebanking, Internetshopping sind selbstverständlich. E-Mail, Handy und Mailbox erweitern scheinbar unsere Möglichkeiten, und helfen uns angeblich, Zeit zu sparen. Aber warum haben wir dann eigentlich immer weniger Zeit, sind gehetzt, gestresst und müde? Weil all die technischen Geräte uns nicht helfen, unsere Zeit zu genießen.

Petra Gerster