WORTE vom 04.-10. Januar 2004

 

ausgewählt von Pfarrer Roland Spur, Stuttgart, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 04. Januar 2004

Erleuchtend

Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen.

Mark Twain

 

Montag, 05. Januar 2004

Genau lesen 

»Manchmal gewöhnen sich die Leute an das, was sie in Filmen sehen, und vergessen, wie es in Wirklichkeit war,« sagte einmal jemand zum Wanderer. »Erinnerst Du Dich an den Film »Die Zehn Gebote«? »Natürlich! Moses – Charlton Heston – hebt den Stab, die Wasser teilen sich, und das Volk Israel kann das Rote Meer durchqueren.« »In der Bibel steht das nicht so,« sagte der andere. »Da gibt Gott Moses den Befehl: „Sag den Kindern Israels, dass sie ziehen!“ Und erst, als sie sich in Bewegung gesetzt haben, hebt Moses den Stab, und die Wasser teilen sich. Denn nur dem, der den Mut hat, den Weg zu gehen, offenbart sich der Weg.« 

Paulo Coelho, Der Mut zum eigenen Weg 

 

Dienstag, 06. Januar 2004

Ist Geiz geil?   

Frommer Wunsch: Er galt als frommer und gottesfürchtiger Mann: jeden Tag ging er in den Tempel, um zu beten. Da erscheint ihm eines Tages der Herr: »Zikomo, du bist ein guter, aber armer Mensch. Ich will Dir helfen. Wünsche Dir, was du willst. Und ich werde es Dir geben unter einer Bedingung: dass ich Deinem Nachbarn das Doppelte von dem gebe, was ich Dir gebe.« Schweigend und hin- und hersinnend geht er heim. »Was ist los, Zikomo?« Er erzählt seiner Frau, was ihm passiert war. »Wenn wir uns drei Zeigen wünschen, bekommt er sechs.« sagt sie. »Und wenn wir uns zwei Ochsen wünschen, bekommt er vier!« Zikomo stürmt aus dem Haus und irrt den ganzen Tag umher. Plötzlich bleibt er stehen, schaut hoch und ruft: »Herr, ich hab’s! Reiß mir ein Auge aus!« 

Erzählung aus Afrika

 

Mittwoch, 07. Januar 2004

Die letzten werden die ersten 

Er kam immer zu spät. Die Rede ist von einem König, der auch den Stern über Bethlehem scheinen sah. Aber er kam immer zu spät an den Ort, an dem er Jesus vermutete, weil er unterwegs jedes Mal von Armen und Bedürftigen aufgehalten wurde, die ihn um Hilfe baten. Nachdem er Jesus 30 Jahre lang durch Ägypten, Galiläa und Bethanien gefolgt war, erreichte der König Jerusalem am Tag von Jesu Kreuzigung, doch der Erlöser war bereits tot.  »Ich bin gescheitert«, dachte der König. Doch da hörte er eine Stimme. »Ganz im Gegenteil. Du bist ein ganzes Leben lang bei mir gewesen! Als ich nackt war, hast du mich bekleidet. Als ich hungrig war, hast du mich gespeist. Als ich gefangen war, hast du mich besucht. Ich war in jeder Seele, die dir auf deinem Weg begegnete. Und ich danke dir für so viele Geschenke der Liebe.«

Edzard Schaper, Der vierte König

 

Donnerstag, 08. Januar 2004

Bestechend 

Vor einem Geschworenengericht wartete ein gefährlicher Verbrecher auf sein Urteil, das möglicherweise auf eine lebenslange Freiheitsstrafe hinauslief. Was tun für einen milderen Schuldspruch? Er beauftragt seinen Anwalt, einen der Geschworenen zu bestechen: er sollte alles tun für maximal zehn Jahre Knast. Nach stundenlanger Beratung kehrten die zwölf Geschworenen in den Gerichtssaal zurück. Sie hatten sich endlich geeinigt: „Schuldig und eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren.“ Nach der Urteilsverkündung raunte der Anwalt dem Bestochenen zu: „Sie haben mir vielleicht Sorgen gemacht! Ihr Geschworenen seid so verdammt lange draußen geblieben, dass ich schon Angst hatte, Sie könnten sich nicht durchsetzen.“ „Ja, beinahe hätte ich es wirklich nicht geschafft“, erwiderte der Mann. „Die anderen waren alle für Freispruch.“ 

Aus dem Amerikanischen von Hans Haider 

 

Freitag, 09. Januar 2004

Die gebratene Ameise

Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tage feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist. Die Ameisen glauben, dass durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der Fleißigsten auf die Essenden übergehe. Und es ist für die Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tage gebraten und verspeist zu werden. Es ist aber trotzdem ein Mal vorgekommen, dass eine der vorbildlich fleißigsten Ameisen kurz vor dem Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt: »Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, dass ihr mich so ungeheuer ehren wollt. Ich muss euch aber gestehen, dass es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich tot zu schuften!« »Wozu denn?« schrieen die Ameisen ihres Stammes und schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne. Sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet. 

Paul Scheerbart

 

Samstag, 10. Januar 2004

Fraglos 

Wer fragt, ist ein Narr für eine Minute. Wer nicht fragt, ist ein Narr sein Leben lang.

Kung Fu-Dse (Chinesischer Lehrer, 27. 8. 551 – 11. 4. 479 vor Christus)