GEDANKEN vom 01.-07. Februar 2004

 

ausgewählt von Pfarrer Dr. Peter Haigis, Kernen, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 1. Februar 2004

Schutzengel

Ich erinnere mich noch gut daran: kleine, bunte Bildchen waren es – von weiß gekleideten Gestalten, die Kinder auf ihrem Weg zur Schule begleiten. Geflügelte Wesen, die am Straßenrand oder an der Haustür stehen. Kitschige Bildchen waren das. Doch meine Schulfreunde und ich haben sie damals gerne gesammelt. Ich erinnere mich auch noch an Gebete, in denen von Schutzengeln die Rede ist, die sich abends um mein Bett versammeln sollen. Mich behüten, wenn ich schlafe, damit mir nachts kein Unheil geschieht.
Heute veranlassen mich solche Bilder eher zum Schmunzeln. Auch die Vorstellung von Schutzengeln selbst ist mir fremd geworden. Sollte es wirklich solche Wesen geben, deren einzige Aufgabe darin besteht, bewahrend und wachend die Menschen zu umgeben? Sind Schutzengel nicht eine Illusion, um die Seele zu beruhigen?
In manch einer gefährlichen Situation sagen wir: "Da hast du einen Schutzengel gehabt." Und meinen: "Du bist gerade noch mal davongekommen." Eigentlich könnten wir auch sagen: "Glück gehabt!" Oder: "Was für ein Zufall!" Wir sprechen aber von Schutzengeln.
Mir hilft es, wenn ich mich von den kitschigen und naiven Bildern meiner Kindheit freimachen kann. Doch die Vorstellung, dass ich nicht allein durchs Leben gehe, möchte ich behalten.
In der Bibel ist zwar nicht von Schutzengeln die Rede, aber von göttlichen Gesandten, die Menschen in ihrem Leben begleiten. Schutzengel sind solche göttlichen Begleiter. Andere Menschen können das sein – mir von Gott zur rechten Zeit über den Lebensweg geschickt. Oder auch unsichtbare Kräfte: ein Gefühl, das Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Eine innere Stimme, die sagt: Gott ist mit dir! Er hält seine Hand über dir!

 

Montag, 2. Februar 2004

Leib und Seele

Jeden Morgen die gleiche Zeremonie: Erst Duschen, dann cremen. Die Haut wird durch Öl und Körpermilch entspannt und geschmeidig gemacht. Fürs Gesicht ein Aftershave oder die Antifalten-Creme. Und dann noch die Duftstoffe: aromatisierte Wässerchen, Deostifte und Sprays.
Das tägliche Morgenritual im Badezimmer ist wichtig. Mindestens so wichtig wie ein nahrhaftes Frühstück. Da geht es keineswegs bloß um Äußerlichkeiten, sondern um die "essentials". – Wie fühle ich mich in meiner Haut? Wie wirke ich auf andere? Was strahle ich aus? Doch Ausstrahlung hat nicht nur mit Kleidung und Kosmetik zu tun. Nicht nur der Körper verlangt seine allmorgendlichen Pflegeeinheiten, auch die Seele.
Nach einem alten Sprichwort gehören ein gesunder, das heißt ein gepflegter Leib und eine gesunde, also gepflegte Seele zusammen. Für das eine sorgen wir weitaus genug – keine Frage. Aber wie pflege ich meine Seele? Welche Einstimmung auf den Tag gewähre ich ihr?
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Nachlässigkeiten hier viel größer sind als im körperlichen Bereich. Aber wenn ich in meinen Alltag nicht hineinstolpern will, muss ich es lernen, auch hierfür Zeit einzuräumen – kostbare Minuten im Morgengetümmel.
Eine kurze Meditation, eine Zeile aus der Bibel, ein Lied können da kleine Wunder wirken: Stille verschafft mir Raum, Träume und Nachtgedanken loszulassen. Eine Atemübung weckt die Seele und entspannt. Ein Gebet bereitet mich auf den Tag vor – zum Beispiel: "Schenke mir Gelassenheit, Gott, in allem, was mich heute erwartet." Und immer wieder merke ich: je mehr Zeit ich mir für solche Vorbereitungen lasse, desto besser geht es mir nachher im Lauf eines arbeitsreichen und anstrengenden Tages.

 

Dienstag, 3. Februar 2004

Gesicht zeigen

Am Telefon spüre ich es immer am deutlichsten: Ich möchte einem Gesprächspartner etwas mitteilen, habe aber das Gefühl, es gelingt nicht. Denn ich sehe nicht in sein Gesicht. Ich kann nicht ablesen, wie es jetzt gerade auf ihn wirkt, was ich zu sagen habe. Ich kann nicht spontan reagieren. Und ich kann selbst auch nur mit Worten reden, ohne die Mimik mitspielen zu lassen.
Worte ohne Mimik können leicht missverständlich sein. Sie sagen nicht alles. Manches kann am Telefon nicht ausgesprochen werden, weil die Gesichter verborgen bleiben. Da klingt eine Liebeserklärung vielleicht wie eine oberflächliche Floskel und ein gut gemeinter Rat kann als anmaßende Zurechtweisung aufgefasst werden. Von Angesicht zu Angesicht miteinander reden zu können, hat etwas Besonderes. Wenn wir miteinander sprechen, spricht ja nicht nur unser Mund, sondern auch unsere Augen reden mit. Ein Lächeln, ein strenger Blick geben dem, was wir einander sagen, eine eigene Färbung. Unsere Gesichtszüge entscheiden darüber, wie es beim anderen ankommt, was wir sagen.
Das Gesicht ist mehr als nur die Vorderseite des Kopfes. Es ist ein Fenster unserer Gefühle und Stimmungen, unserer Wünsche und Absichten. Das Gesicht ist das Persönlichste, was ein Mensch hat. Ganz gleich, ob ich ein Gesicht als schön oder hässlich empfinde. In ein Gesicht schauen zu können, heißt, einen Menschen ganz persönlich vor Augen zu haben. Deshalb empfinden wir Situationen als peinlich, in denen wir wildfremde Leute aus der Nähe anschauen müssen oder selbst von ihnen aus nächster Nähe angeschaut werden – im Zugabteil, im Fahrstuhl oder am Tisch in einem Lokal.
Es ist eine Gabe Gottes, dass Menschen Gesichter haben. So hat er uns geschaffen. Als seine Ebenbilder. Mit Gesichtern, damit wir uns einander zuwenden können. Damit wir uns etwas mitzuteilen haben – auch ohne Worte. Menschliche Begegnungen finden von Angesicht zu Angesicht statt.

 

Mittwoch, 4. Februar 2004

Gesicht verlieren

Gesichtsverlust ist die härteste Form sozialer Strafe. Da geht es nicht nur ums Image oder Prestige. Gesichtsverlust bedeutet gesellschaftliche Ächtung und Brandmarkung. Deshalb gibt man Politikern oder anderen Menschen des öffentlichen Lebens die Chance, aus einer Affäre herauszukommen, "ohne das Gesicht zu verlieren".
Was wäre ein Mensch ohne sein Gesicht – ganz wörtlich genommen? Ein Niemand, ein unbeschriebenes Blatt. Da wäre nichts, womit sich ein Name verbindet. Ein Mensch ohne Gesicht würde schnell in Vergessenheit geraten. Er hätte keine Möglichkeit, sich zu zeigen, sich verständlich zu machen, Anschluss zu finden. Man könnte nicht mit ihm reden, in kein Gesicht schauen. Ein Mensch ohne Gesicht wäre wie ein Nichts.
Die Redewendung vom Gesichtsverlust nimmt etwas von dieser surrealen Vorstellung auf. Man spricht eigentlich nur dann vom Gesichtsverlust, wenn sich jemand eines deutlichen Versagens schuldig gemacht hat. Zugleich drückt diese Redensart aber aus, dass solche Fehler nicht unverzeihlich sind, sondern bewältigt werden können – eben ohne das Gesicht zu verlieren.
Die Persönlichkeit eines Menschen ist mehr ist als die Summe seiner Fehler. Wenn ich bereit bin, das anzuerkennen, gebe ich jemandem die Chance, sein Gesicht zu wahren. Ich lasse ihn gelten, obwohl er versagt oder Fehler gemacht hat. Ich biete ihm die Möglichkeit, in seinem Gesicht Spuren von Einsicht oder Reue zu zeigen. Weil ich weiß: jeder Mensch – ich selbst eingeschlossen – ist mehr als die Summe seiner Fehler. Nur so gibt es einen Weg, aus einem Schlamassel herauszukommen – ohne zuvor schon das Gesicht verloren zu haben.

 

Donnerstag, 5. Februar 2004

Körpersprache

Schon mal "mit dem falschen Fuß aufgestanden"? Da wird der Tag wackelig, da ist die Standfestigkeit in Gefahr. Die Redensart, "mit dem falschen Bein aus dem Bett gekommen zu sein", geht auf eine einfache körperliche Erfahrung zurück – eine kleine Gleichgewichtsstörung, ein leichtes Einknicken nach stundenlangem Liegen.
Das ist "Körpersprache". Eine Redewendung, die uns der Körper selbst nahe legt. Und davon gibt es Dutzende: Wenn mich etwas unruhig macht oder mich etwas umtreibt, dann "hat es mir auf den Magen geschlagen". Wenn ich aufgeregt bin oder erschrocken, "rutscht mir das Herz in die Hose" oder "mir stehen die Haare zu Berge". Wenn ich mich ärgere, "bekomme ich einen dicken Hals" oder "es geht mir die Galle über". Kaum ein Organ des menschlichen Körpers gibt es, das nicht in einer solchen Redensart verewigt wäre.
Dass wir diese Redensarten in unserer Sprache haben, ist kein Zufall. Unser Körper spricht seine eigene Sprache – und er spricht sie deutlich. Wir kennen eine Fülle von Situationen, in denen uns bestimmte Signale unseres Körpers etwas darüber verraten, wie wir gerade "drauf" sind. Die besondere Kunst ist es, diese Signale rechtzeitig zu hören und zu verstehen.
Auch die Bibel ist voll von solchen Redewendungen. Sie spricht eine sehr körperbetonte Sprache. In einem Gedicht im Alten Testament heißt es: "mich stechen meine Nieren in der Nacht." Kein Spuk, keine Magie ist da im Spiel – nur ein gesundes Körperempfinden: Der Glaube, dass Gott uns mit einem sensiblen Leib geschaffen hat. Und das Wissen aus Erfahrung, was man mit solchen Signalen anfangen soll.
Meine Nieren haben zwar noch nicht zu mir gesprochen. Aber vielleicht sagt mir ein verspannter Nacken heute, dass mir manches zu viel wird und dass es an der Zeit wäre, Lasten abzulegen.

 

Freitag, 6. Februar 2004

Stark und schwach

Nachdem schon einige, auch kraftstrotzende Männer versucht haben, das verkeilte Schiebefenster im Zugabteil zu öffnen, sagte meine vierjährige Tochter, mit der ich unterwegs war: "Mein Papa kann das. Der ist nämlich der stärkste Papa der Welt." Und aufmunternd rief sie mir zu: "Los, zeig mal deine Muskeln."
So viel Vertrauen rührt einen natürlich als Vater – vor allem, wenn man selbst nicht so groß von sich denkt. Ich bin kein so gut geschnürtes Kraftpaket wie manch anderer. Darum hat es mich in der Schule immer geärgert, im Sportunterricht nur gerade so zum Durchschnitt zu gehören. Ich wollte etwas darstellen, etwas leisten – auch körperlich.
Heute sind die Zeiten vorbei, wo ich Spitzensportler und Kraftmeier vergöttere. Körperlich fit zu sein, ist immer noch ein hoch angesehenes Ideal in unserer Gesellschaft. Und es ist kein schlechtes Ideal. Aber "fit sein" heißt mehr, als nur körperlich stark oder gesund zu sein. "Fit sein" heißt, die eigene Leistungsfähigkeit genau einschätzen zu können, sich nicht zu überfordern, aber auch nicht zu unterfordern. "Fit sein" heißt, seine Stärken und Schwächen zu kennen und mit ihnen rechnen zu können.
In der Bibel gibt es einen Spitzensatz, der das auf den Punkt bringt: "Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark." Solange ich nur auf meine Stärken starre und nur das sehen will, was ich kann, bin ich im Grunde ein Schwächling, der sich krampfhaft und ängstlich an das klammert, worin er sich sicher fühlt.
Wenn ich aber meine Schwächen respektiere und zu ihnen stehe, dann bin ich echt stark. Ich bringe den Mut auf abzulehnen oder abzugeben, was ich selbst nicht schaffe. Ich muss nicht alles selbst leisten, sondern kann mir auch ‘mal etwas schenken lassen. Und ich bin – teamfähig.

 

Samstag, 7. Februar 2004

Maskenspiel

Ein Mann geht eine Straße entlang. An seiner Seite trägt er einen Reisekoffer. Der Kofferdeckel ist aufgesprungen, nach unten weggeklappt. Eine Vielzahl verschiedener weißer Masken quillt heraus. Sie fallen auf den Boden und bilden eine Spur hinter dem Reisenden.
Das Motiv entdeckte ich auf einem polnischen Theaterplakat. Keine schlechte Werbung! Das Bild fesselt die Aufmerksamkeit und es beschäftigt mich noch länger. Es ist eben nicht nur ein Theatermotiv, hat auch nicht nur mit Fasching und Karneval zu tun. Wenngleich sich die Schaufenster derzeit wieder mit allerlei Verkleidungsartikel füllen und uns an die närrische Zeit erinnern, in der Maskerade das Gebot der Stunde ist.
Eine Maske zu tragen, ist etwas Alltägliches. Natürlich zeige ich nicht immer mein wahres Gesicht. Wahrscheinlich sogar nicht mal allzu häufig. Ich setze mir eine Maske auf, denn die Maske schützt mich. Sie verdeckt etwas, was ich nicht jedem und nicht offen zeigen will und kann. Ich trage eine heitere oder lustige Maske, damit nicht gleich alle sehen, wenn ich ein Problem mit mir herumschleppe. Ich spiele den Coolen, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr etwas unter die Haut geht.
Masken sind hilfreich in Situationen, die ich noch nicht so recht abschätzen kann. Sie verschaffen mir Ruhe und Distanz, wenn mir etwas zu nahe auf den Leib rückt. Und das Gute ist: sie sind austauschbar. Ich trage die Maske, die ich gerade brauche – in der Rolle des Vaters, des Lehrers, des Pfarrers, des Kollegen.
So gesehen haben Masken nichts mit Verlogenheit zu tun. Sie verdecken zwar, aber sie schützen auch. Dennoch ist das Leben mehr als eine Maskerade. Auch wenn ich täglich viele Maskierungen brauche, irgendwann ist es Zeit, eine Maske wieder abzunehmen: wenn ich es aushalten kann, dass jemand mein Gesicht sieht. Eine Wohltat ist das dann – denn unter Masken kommt man leicht ins Schwitzen.