GEDANKEN vom 11.-17.01.2004

 

ausgewählt von Martin Wolf, Kaiserslautern, Katholische Kirche

 

 

Sonntag, 11. Januar 2004

Tägliches Brot

"Brot schmeißt man nicht achtlos weg! Schließlich gibt es Menschen, die hungern müssen". Die Worte meiner Mutter klingen mir heute noch im Ohr, nach dreißig Jahren. Als Kind hat meine Mutter den 2. Weltkrieg noch erlebt. Die Erfahrungen dieser Zeit haben sie lange geprägt. Sie hat erfahren, was es heißt nichts zu haben: Kein Spielzeug, keine schicken Klamotten und eben auch kein Brot. Das Wort Hunger hat für sie eine andere Bedeutung als für mich. Am Brot hatten wir zwar nie Mangel. Trotzdem umgab das Brot stets etwas Besonderes: Etwas, dass sich vielleicht mit dem altmodischen Wort Ehrfurcht beschreiben lässt.
Heute ist Brot zur Massenware geworden. Hunderte Brotsorten sind im Angebot. Ich kann es kaufen sooft und soviel ich will. Ein Allerweltsartikel. Fabrikware, oft von Maschinen hergestellt und hygienisch in Plastik verpackt. Zugegeben, es mag schwer fallen, einem solchen Artikel mit Ehrfurcht zu begegnen. Dennoch bleibt Brot ein Symbol für das Leben.
"Unser tägliches Brot gib uns heute". Diesen Satz beten Christen überall auf der Welt. Er findet sich im wohl ältesten Gebet der Christenheit, dem Vater unser. Für uns mag diese Bitte vor den prall gefüllten Brotregalen der Supermärkte vorsintflutlich klingen. Für unzählige Menschen außerhalb Europas hat sie allerdings auch 2004 eine existentielle Bedeutung. Das tägliche Brot bleibt für sie alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Daran hat alle Globalisierung bis heute nichts verändert.
Wahrscheinlich tue ich mich deshalb bis heute schwer, ein Stück Brot einfach wegzuwerfen. Brot schmeißt man nicht achtlos weg. Es gibt zu viele Menschen, die nicht ein Stück davon haben.

 

Montag, 12. Januar 2004

Gelebte Träume

Mit wie vielen guten Vorsätzen und frommen Wünschen ist es wohl wieder gestartet, das neue Jahr. Gerade mal zwölf Tage ist es alt, aber viele dieser Wünsche werden sich schon jetzt in Nichts aufgelöst haben. Das geht uns zwar jedes Jahr so, aber warum sollte nicht gerade diesmal ein Traum in Erfüllung gehen, sei es auch nur ein klitzekleiner.
Manchmal ist das so, als warteten wir auf die gute Fee. Doch die kommt nur im Märchen und stellt einen Herzenswunsch frei. Im wirklichen Leben ist das nicht so leicht. Da gibt es Wünsche, die schieben wir oft ein ganzes Leben vor uns her: Den Wechsel des ungeliebten Berufs, den Schlussstrich unter eine quälende Beziehung oder einfach die Erfüllung eines lang gehegten Traums.
Veränderungen aber geschehen selten von außen. Wir müssen sie selber in Angriff nehmen und oft klappt das nicht beim ersten Anlauf. Es ist mühsame Arbeit mit Rückschlägen und Sackgassen. Arbeit, die Ausdauer und Geduld erfordert. Vor allem: Jede Veränderung heißt Abschied vom Gewohnten, Aufbruch ins Unbekannte. Ein Ringen mit dem inneren Schweinehund, der es sich im gesicherten Zuhause so schön bequem gemacht hat. Erfüllte Träume sind selten umsonst zu haben. Auch in den meisten Märchen nicht.
Ein Bibeltext, der mir besonders wichtig ist, erzählt die Geschichte von einem, der eines Tages tatsächlich alles hinter sich lässt. Auf Gottes Zusage hin bricht er auf in ein unbekanntes Land und damit in eine ganz neue Zukunft. Abraham, so heißt er, ist für mich so etwas wie der Prototyp für alle, die den Aufbruch wagen. Gott, so verheißt die Geschichte, wird uns dabei begleiten. Und wer weiß, vielleicht werden wir dabei wirklich das Land unserer Träume finden.

 

Dienstag, 13. Januar 2004

Glaubens-Gefängnis

Eine Einrichtung mit täglichen Gebetszeiten, in der religiöse Kurse und Chorgesang zum Alltag gehören, kann eigentlich nur ein Kloster sein. Weit gefehlt! In Amerika gibt es einen Knast, der sich diesem Programm verpflichtet hat. Glaubens-Gefängnis, so überschrieb ihn viel sagend ein kleiner Zeitungsbericht.
Dass der Glaube eines Menschen etwas mit seiner Lebensführung zu tun hat, diese Hoffnung darf man zumindest haben. Außerdem vermittelt uns jede Religion moralische Maßstäbe. Sie geben Richtlinien, was erlaubt ist und was verboten, was gut ist und was schlecht. Eigentlich genau richtig für Menschen, denen diese Maßstäbe gelinde gesagt etwas durcheinander geraten sind.
In den Genuss dieser Einrichtung kommen allerdings nicht jene Schwerkriminellen, die auf Grund ihres Glaubens zu Verbrechern geworden sind. Menschen, die aus religiösem Fanatismus zu Mördern werden. Schade eigentlich, denn wer unter Berufung auf seinen Glauben Angst und Terror verbreitet, sitzt selber in einer Art Glaubens-Gefängnis. Dabei kann jeder Glaube irgendwann zur Zwangsjacke werden, die alle moralischen Sicherungen durchbrennen lässt. Gleich ob es sich um Christen in Nordirland oder um Moslems im Nahen Osten handelt. Alle berufen sich auf Gott, um ihre wirren Vorstellungen mit Mord und Totschlag durchzusetzen.
Der Gott, von dem die Bibel und der Koran erzählen, kann es jedenfalls nicht sein. Er ist ein Gott, der Gerechtigkeit will. Ein Gott aber auch, der zutiefst bestürzt ist, wenn Menschen, die sich auf ihn berufen, zu Verbrechern werden. Seinen Boten hat er einmal sagen lassen, er sei gekommen um alle zu heilen, deren Herz zerbrochen ist. Den Gefangenen sollte er die Entlassung verkünden und den Gefesselten die Befreiung. Sätze, die die Häftlinge im amerikanischen Glaubens-Gefängnis gerne hören werden. Sätze, die allerdings auch denen gut täten, die im Namen dieses Gottes Angst und Terror verbreiten.

 

Mittwoch, 14. Januar 2004

Generationenkonflikt

Gefühle waren seine Sache nie. Die hatte man, aber man zeigte sie nicht. Weder Freude noch Ärger, noch Trauer, es ging niemanden etwas an. Das ist bis heute so. Jetzt lebt der alte Vater im Altenheim. Seine Tochter weit entfernt. Das Telefon verbindet sie. Worte lassen sich damit austauschen, menschliche Nähe nicht. Es lässt keine stummen Blicke zu, kein stilles Beisammensitzen. Ob es ihn freut, wenn sie ihn anruft, erfährt sie von ihm nicht. Dabei gäbe es noch so viel zu sagen. Über ihr Verhältnis zueinander, über Verletzungen und Missverständnisse der letzten Jahre. Es geht nicht mehr. Die zunehmende Demenz hält ihn gefangen. So drehen sich die Gespräche um Belangloses. Um das Wetter, das Essen im Heim, gemeinsame Bekannte. Wie es ihm wirklich geht, kann sie nur vermuten. Es geht schließlich niemanden etwas an. Sie versucht, ihn zu verstehen und versteht ihn doch nicht. Der alte Vater bleibt ein Rätsel.
Vom Generationenkonflikt wird viel geredet in diesen Wochen. Von Forderungen der Alten an die Jungen und der Jungen an die Alten. Von Verteilungskämpfen, die uns vielleicht noch bevorstehen. Das schürt die Emotionen. Schließlich geht es um das Wertvollste, was wir haben. Um unser Geld.
Vom Generationenkonflikt, der aus dem Nichtverstehen entsteht, von der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, lese ich fast nichts. Ihn beizulegen käme ungleich billiger als eine Neuregelung der Alterssicherung. Allerdings auch ungleich schwieriger, denn die Bereitschaft, sich in Offenheit und Toleranz einander mitzuteilen, lässt sich nicht einfach im Bundesgesetzblatt verordnen.

 

Donnerstag, 15. Januar 2004

Gutes Leben günstig

Das gute Leben verspricht uns jetzt ein Lebensmitteldiscounter: Das gute Leben günstig. Ein genialer Slogan. Ein Versprechen, das fast so aussagekräftig ist wie ein weißes Blatt Papier. Jeder kann sein eigenes Bild darauf malen. Ich bin sicher, es käme eine ziemlich bunte Palette dabei heraus. Was für den einen das Leben mit Luxusvilla und Ferrari ist, ist für den anderen der einsame Landhof mit Ziegen und Hühnern. Ob eingefleischter Single oder berufstätige Mutter von vier Kindern, alle haben sie ihre eigenen Vorstellungen vom schönen, vom guten Leben.
Das gibt’s nun endlich im Supermarkt. Nicht einfach nur billig oder geizig wie bei der Konkurrenz. Nein, günstig! Das kommt immerhin von Gunst und die wird bekanntlich von den Göttern verliehen. Wem Gott will rechte Gunst erweisen, hab ich noch in der Schule gelernt.
Was immer man unter gutem Leben auch verstehen mag. Ob es wirklich zwischen Konservenregalen und Frischfleischtheke zu finden ist? Der griechische Philosoph Aristoteles hat sich schon vor 2400 Jahren seine Gedanken dazu gemacht. Das gute Leben hatte für ihn ganz viel mit Muße zu tun. Damit meinte er nicht ödes Rumhängen vor der Glotze, sondern vor allem geistige Beschäftigung: Also lesen, nachdenken oder musizieren. Nur Einkaufen hätte für Aristoteles ganz sicher nicht dazu gehört. Vielleicht widerspricht unsere Idee vom guten Leben ja gerade dem, was die Supermarktkette bezwecken wollte: Uns zum Kommen und Geldausgeben zu motivieren und so den Umsatz brummen zu lassen.
Etwas Gutes hat der Slogan auf jeden Fall: Er könnte uns daran erinnern, dass unser Leben viel mehr ausmacht, als nur Geld und Konsum. Wie hatte doch der Bundespräsident sehr treffend in seiner Weihnachtsansprache gesagt: Wenn wir alle Lebensbereiche nur noch nach wirtschaftlichen Gesetzen formen, geraten wir in eine Sackgasse. Dadurch verpassen wir wesentliche Dinge im Leben. Vielleicht sind es gerade die, die das gute Leben ausmachen.

 

Freitag, 16. Januar 2004

Abgründe

Wer bin ich? Woher komme ich und wohin werde ich einmal gehen? Existentielle Fragen, so alt wie die Menschheit selbst. Wer einmal anfängt darüber nachzudenken, der kann dabei bis in Innerste seiner Seele vorstoßen. Es sind Fragen, auf die alle Religionen der Welt eine Antwort zu geben versuchen.
Dass ausgerechnet diese tiefsinnigen Fragen aber von bluttriefenden Horrorfilmen angestoßen werden sollen, hat mich mehr als verblüfft. Der amerikanische Regisseur Martin Scorsese soll das zumindest behauptet haben. Es wäre auch viel zu viel der Ehre für den neuesten Schockfilm über einen durchgeknallten Kettensägenmörder. Pünktlich zum Neujahrstag hat er das Licht unserer Kinos erblickt.
Nun lassen sich im Innersten unserer Seele bekanntlich nicht nur philosophische Fragen, sondern auch finstere Abgründe finden. Dunkle Kammern, über die kaum jemand offen zu reden bereit ist. Da tummeln sich bizarrste Wünsche und Phantasien genau so wie urtümliche Ängste, die wir nur mit Mühe bändigen können. Genau damit aber und weniger mit hoher Philosophie spielen die meisten Horrorstreifen.
Nur warum muss dazu eigentlich bestialische Gewalt bis ins Detail vorgeführt werden? Wozu dienen widerliche Bilder der Sorte: Sind sie zu stark, bist du zu schwach? Bilder, die sich dank ihrer Abartigkeit oft jahrelang im Gedächtnis einbrennen. Sind wir als Zuschauer wirklich schon so abgestumpft, dass wir immer härtere Dosen an Brutalität brauchen, um überhaupt noch etwas in uns zu fühlen? Verunsicherung etwa oder sogar Angst?
Den Versuch einer Antwort könnte Bertold Brecht schon vor vielen Jahrzehnten gegeben haben: Wenn alles so weitergeht, schrieb er einmal, wird man an Langeweile zugrunde gehen. Wo nichts los ist, kann man nicht leben.
Blanker Horror als Mittel gegen die Langeweile? Fragt sich nur, was als nächstes nötig sein wird, wenn auch das nicht mehr reicht. Als nächster stimulierender Kick gegen die innere Langeweile.

 

Samstag, 17. Januar 2004

Stark wie der Tod

Die beiden waren nicht gerade Romeo und Julia, alles andere als das klassische Liebespaar. Trotzdem werde ich das Strahlen in ihren Augen nicht vergessen, als sie mir das Bild von ihrer Hochzeit zeigte. Er war die große Liebe meines Lebens, sagte sie. Sie waren beide weit über 50, kannten sich schon seit vielen Jahren. Es war eine eher heimliche Liebe. Er verheiratet, mit Familie. Sie ledig. Sie hat auf ihn gewartet, fast ihr halbes Leben lang. Vor drei Jahren dann haben sie geheiratet, haben ihrer Liebe eine amtliche Form gegeben – nachdem seine Ehe geschieden war. Sie konnte das späte Glück kaum fassen.
Es währte nicht mal zwei Jahre. Eines Tages fand sie ihn tot in der gemeinsamen Wohnung. Sein Herz war einfach stehen geblieben. In ihrem Herzen brach eine Welt zusammen. Über den Schlag ist sie nicht hinweggekommen. Jetzt kurz vor Weihnachten ist sie auch gestorben, nicht mal ein Jahr nach ihrem Mann. Woran sie starb, weiß ich nicht. Doch wenn es so etwas geben sollte, bin ich mir sicher, dass es ihr das Herz gebrochen hat.
Ihre Geschichte fiel mir ein, als ich kürzlich von weiter steigenden Scheidungsraten las. Von all den Schwierigkeiten, aus der gemeinsamen Liebe ein gemeinsames Leben zu machen. Von der schwindenden Fähigkeit, mit Enttäuschungen im Leben umzugehen. Von der schnellen Bereitschaft, alles hinzuwerfen, wenn es mal nicht mehr rund läuft. Sie hätte das alles nicht verstehen können.
Stark wie der Tod ist die Liebe, heißt es in einem der schönsten Texte der Bibel. Sie hat diesen Satz gelebt, bis zum Schluss.