GEDANKEN vom 04.-10. Januar 2004

 

ausgewählt von Pfarrerin Dorothee Wüst, Kaiserslautern, Evangelische Kirche

 

Sonntag, 04. Januar 2004

»Worte sind Schall und Rauch«, sagt ein altes Sprichwort. Das viele Menschen seufzend im Munde führen. Weil sie immer wieder die Erfahrung machen, dass es stimmt. Dass Worte an der Zeit und mit der Zeit ihre Bedeutung verlieren. Dass Worte einfach nicht verlässlich sind. »Ich liebe dich« ist so ein Wort. Das sagen doch viele. Jeden Tag. Und meinen es für die Ewigkeit. Und sagen es vor dem Standesbeamten. Und finden sich wieder vor dem Scheidungsrichter. Und wundern sich, dass sie jemals zu diesem Menschen diese Worte sagen konnten. »Du bist mir wichtig« ist so ein Wort. Das sagen doch viele. Jeden Tag. Durch Gesten, durch Anrufe, durch Geschenke. Und meinen es ganz ernst. Und ziehen weg. Und stellen fest, dass räumliche Distanz schwer zu überbrücken ist. Und dass die Wirklichkeit von heute die Worte von gestern längst überholt hat. »Du bist wertvoll« ist so ein Wort. Das sagen doch viele. Jeden Tag. Durch Beförderungen, Urkunden, Ehrenzeichen. Aber dann die Notwendigkeit. Die Entlassungen erfordert. Und die guten Worte sind plötzlich Schnee von gestern. Makulatur angesichts der Wirtschaftslage. »Worte sind Schall und Rauch« sagt ein altes Sprichwort. Das viele Menschen seufzend im Munde führen. Und in ihrem Herzen weiterhin die Sehnsucht hegen, dass es doch irgendwo Worte gibt, die Bestand haben. Ohne Verfallsdatum. Mit Ewigkeitswert. »Himmel und Erde werden vergehen. Aber meine Worte werden nicht vergehen.« Kein altes Sprichwort. Sondern ein altes Bibelwort. Das von Worten spricht, die verlässlich sind. Die nicht an der Zeit und mit der Zeit ihre Bedeutung verlieren. Die ganz ähnlich klingen wie unsere. Ich liebe dich. Du bist mir wichtig. Du bist wertvoll. Gott spricht solche Worte. Er sagt sie zu mir. Er sagt sie zu jedem. Er sagt sie in unsere Sehnsucht hinein. Ohne Verfallsdatum. Mit Ewigkeitswert. Und das ist doch ein Wort.

 

Montag, 05. Januar 2004

Gottesdienst im Kindergarten. Wie immer wünsche ich uns, dass der liebe Gott mit uns feiert. Und bemerke, dass eines der Kinder anfängt, sich nervös umzuschauen. Das bleibt auch so während des ganzen Gottesdienstes. Bis zum Segen. Später stellt sich heraus, dass die kleine Sabrina während des ganzen Gottesdienstes auf Gott gewartet hat. Der sollte doch mit uns feiern. Und dann ist er nicht gekommen. Dabei hätte sie wirklich gerne einmal gewusst, wie der aussieht. Der Gott. Und fand es auch ein bisschen unhöflich, dass er einfach nicht gekommen ist. Also habe ich mit der kleinen Sabrina geredet. Habe ihr erklärt, dass man Gott nicht sehen kann. Und dass er trotzdem da sein kann. So wie die Mama ja auch da ist, wenn man sie nicht dauernd sieht. Nur dass man den lieben Gott eben gar nie sehen kann. Weil er eben unsichtbar ist. Da nickt die kleine Sabrina. Das hat sie verstanden. Aber noch immer plagt sie eine Frage: „Warum macht er sich unsichtbar? Ist er hässlich?“ Und ich begreife, dass es noch viel herauszufinden gibt. Über den lieben Gott. Was ich gar nicht schlecht finde. Nicht nur wegen der kleinen Sabrina. Sondern auch wegen mir. Als Erwachsener hat man sich so sehr daran gewöhnt, dass man sich unter Gott nur schwer etwas vorstellen kann, dass viele sich lieber gar nichts mehr vorstellen. Und manche sind längst derselben Ansicht wie die kleine Sabrina. Dass Gott entweder unhöflich ist oder sonst irgendein Problem haben muss, weil er sich einfach nie blicken lässt. Gottes Gegenwart in der Welt zu begreifen, ohne etwas in Händen zu halten oder vor Augen zu haben, ist nicht nur für Kinder eine Zumutung. Für Erwachsene erst recht. Aber man kann ja gemeinsam versuchen, etwas herauszufinden. Über den lieben Gott. Gemeinsam fragen und gemeinsam nach Antworten suchen. Kann man von der kleinen Sabrina lernen.

 

Dienstag, 06. Januar 2004

Ein heller Stern am Himmel. Ein ganz besonderer Stern. Dem folgen die drei Weisen aus dem Morgenland. Weil sie ihn für ein Zeichen halten. Zeichen für einen Ort. Einen ganz besonderen Ort. Den wollen sie finden. Den Ort unter dem Stern. Und so laufen sie. Und laufen und laufen. Es vergehen Wochen, Monate, Jahre. Und noch immer laufen sie und suchen den besonderen Ort unter dem besonderen Stern. Und eines Tages lassen sie sich erschöpft in den Sand fallen und erkennen die Wahrheit: Sie haben sich verlaufen. Nein, natürlich geht die Geschichte anders. Die Legende von den drei Weisen aus dem Morgenland. Die laufen einem Stern hinterher und finden, was sie suchen. Den besonderen Ort. Die Krippe im Stall zu Bethlehem. Und das hat sie so berühmt gemacht, dass wir noch nach all den Jahrhunderten ihre Geschichte erzählen. Was aber wäre gewesen, wenn es anders gekommen wäre? Wenn sie eben nicht gefunden hätten, was sie gesucht haben? Wenn sie sich tatsächlich verlaufen hätten in dieser großen, weiten Welt? Dann würde vermutlich kein Hahn mehr nach ihnen krähen. Aber meinen Respekt hätten sie trotzdem verdient. Weil ich es allein schon großartig finde, dass sie losgelaufen sind. Nur wegen eines Sternes. Wegen eines Zeichens. Wegen eines Traumes. Deswegen haben sie alles aufgegeben und zurückgelassen. Und sind einfach losgelaufen. Das ist so mutig, dass ich den Hut ziehe. Weil ich weiß, wie schwer das ist. Weil es doch immer so viele gute Gründe gibt, warum Träume Träume bleiben. Weil sich doch alle Zeichen so gründlich erklären lassen, dass sie irgendwann ihre Kraft verloren haben. Und weil Sterne auch in die Irre führen können. Dennoch wünschte ich mir manchmal ein Quäntchen mehr Mut, wie ihn die Weisen hatten. Mut, nach Zeichen zu suchen und Träume zu leben. Allein auf Hoffnung. Hoffnung, dass mein Weg unter einem guten Stern stehen möge.

 

Mittwoch, 07. Januar 2004

"Big Brother" im russischen Fernsehen. Seit Mitte November verfolgen täglich zwischen neun und zehn Uhr abends etwa 20 Millionen Menschen in Russland das Geschehen in und um einen Container. Der allerdings nicht in Moskau steht, sondern in Berlin. Dorthin hat man Mitte November zwölf junge Russen und Russinnen mit verbundenen Augen verfrachtet. Ohne Geld und Sprachkenntnisse haben sie bis in den Februar hinein die Aufgabe, reihum im Großstadtdschungel Berlins Essen für sich und die Gruppe zu besorgen. Unter den wachsamen Augen der Kameras und der Voyeure an den Fernsehschirmen ziehen die jungen Leute nun also täglich durch die Straßen Berlins und betteln. Und wo das nicht funktioniert, beginnt die Bereitschaft zu Diebstahl und Prostitution. Wobei es natürlich das bekannte Hintertürchen gibt: Wer will, kann aussteigen. Und hat nichts anderes zu verlieren als eine lebenslange Rente, die als Preisgeld ausgesetzt ist. Bei diesem Medienspektakel, das den bezeichnenden Namen „Golod“, zu deutsch „Hunger“ trägt, wird es denn doch nie um das nackte Leben gehen. Anders als bei den rund 850 Millionen Menschen auf unserem Planeten, die laut Meldung der Vereinten Nationen an Unterernährung leiden. Auch in Russland. Und die Zahl wächst. Was nicht daran liegt, dass es auf dieser Welt nicht genug zu essen gibt. Sondern daran, dass die Nahrungsmittel ungerecht verteilt sind. Was auch nichts Neues ist. Was jeder weiß. Woran sich aber leider auch nichts ändert. Angesichts dessen wirkt das Hungerspektakel aus Russland reichlich zynisch. Auch wenn die Macher versichern, es handele sich doch schließlich nur um eine ganz besondere Art der Völkerverständigung. Zwischen Moskau und Berlin wohlgemerkt. Wie wäre es dann aber einmal mit einer ganz besonderen Art der Völkerverständigung zwischen Wohlstandsgebieten und Mangelregionen? Bei der es nicht um Quote mit dem Hunger, sondern um Quote gegen den Hunger ginge. Dann könnten nicht nur ein paar Menschen aus dem Hunger aussteigen, sondern ein paar Millionen. Und es gäbe gar nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen.

 

Donnerstag, 08. Januar 2004

Von den zweiundfünfzig Wochen, die dieses Jahr so mit sich bringt, ist eine schon mal rum. Guter Zeitpunkt, nach den guten Vorsätzen zu fragen. Denn die hat man ja gerne am Anfang eines neuen Jahres. Mich gesünder ernähren. Öfter die Eltern besuchen. Mehr Zeit mit den Kindern verbringen. Weniger Kuchen essen. Endlich Sport treiben. Dinge in dieser Art. Gute Vorsätze eben. Die ich alle teilen kann. Von denen ich aber allesamt behaupten kann, dass ich sie schon im vorigen Jahr und in den Jahren davor hatte. Weil mir seit längerem schon meine Vernunft sagt, dass es wichtige Dinge sind. Die mein Leben und das Leben meiner Lieben eindeutig bereichern und verbessern würden. Offensichtlich ist die Vernunft jedoch nicht alles. Denn noch immer esse ich viel zu spät und zu schwer, bewege mich bestenfalls vom Schreibtisch ins Auto und stopfe meinen Terminkalender besinnungslos zu. Ist wohl so eine Sache mit dem gesunden Menschenverstand und den guten Vorsätzen. Was möglicherweise etwas mit dem Wort »Vorsatz« zu tun hat. Mit einem guten Vorsatz setze ich mir selbst etwas vor. Mache mir sozusagen selbst eine Vorschrift. Verordne mir etwas, weil es eben vernünftig ist. Weil meine Vernunft mir sagt, dass das besser für mich ist. Jetzt steckt aber in den meisten Menschen so ein kleiner Rebell. Der mit der Vernunft im Clinch liegt. Und sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, irgendwelche Vorschriften zu akzeptieren. Selbst wenn man sie sich selbst macht. Und solange der kleine Rebell nicht einsieht, was die Vernunft längst weiß, sind alle guten Vorsätze zum Scheitern verurteilt. Mit anderen Worten: Nur wenn ich wirklich etwas ändern will, werde ich es auch ändern. Mit guten Vorsätzen allein ist es nicht getan. Im Gegenteil: Die produzieren nur unguten Druck. An dem ich ganz schnell scheitere. Und dann erst recht nichts ändere. Also gehe ich es langsam an. Keine Komplettlösungen, sondern sanfte Einstiege. Übers Jahr verteilt. Und vielleicht fange ich jetzt mit einem Apfel schon mal an. Hätte gerade Lust darauf.

 

Freitag, 09. Januar 2004

Bei Schering in Berlin gibt es das. Ebenso bei IBM in Hannover. Und bei der Deutschen Bahn in Gießen. In immer mehr Firmen treffen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen regelmäßig zum Gebet. Natürlich nur, wer das möchte. Gerade in schwierigen Situationen oder vor wichtigen Entscheidungen soll das geistliche Miteinander ein Stück Kraft und Halt geben. Wobei das geistliche Miteinander nicht selten auch zu einem veränderten Miteinander im täglichen Umgang führt. Das sogenannte »Firmengebet« ist ein Anliegen des Vereins »Christen in der Wirtschaft«. Auf deren Homepage findet sich eine Liste der Firmen, in denen bereits ein solcher Kreis existiert. Und an den Einträgen im Gästebuch lässt sich sehen, dass ein Bedürfnis vorhanden ist. Ein Bedürfnis, Christsein auch am Arbeitsplatz leben zu können. Was nicht selbstverständlich ist. Für viele Menschen gehört der Glaube nach wie vor in den Schutzraum der Kirche oder des Privaten. Im öffentlichen Bereich wirkt gelebtes Christsein oft wie ein Fremdkörper. Etwas, was dort nicht hinpasst. Weil dort nach anderen Regeln gespielt wird und andere Werte zählen. Wem die Werte seines Glaubens wichtig sind, erlebt dann einen Spagat. Glaube am Wochenende. Und an den Werktagen ist er an der Garderobe abzugeben. Beim freiwilligen Firmengebet geht es sicherlich nicht darum, aus einem Konzern eine Kirche zu machen. Aber es ist eine gute Möglichkeit für Menschen, alles, was ihnen wichtig ist, unter einen Hut zu bringen. Ihren Glauben mit ihrer Arbeit in Verbindung zu bringen. Und sich in ihrer Arbeit durch ihren Glauben unterstützen zu lassen. Und vielleicht sogar trotz Konkurrenzdruck und Hackordnung durch die Gemeinschaft. »Wenn ich dich anrufe, so erhörst du mich und gibst meiner Seele große Kraft.« So heißt es im 138. Psalm. Und gerade am Arbeitsplatz hat man große Kraft so richtig nötig.

 

Samstag, 10. Januar 2004

Omo und McDonald spielen mit Bauklötzen, während Agfa ein Bild ausmalt und Bräustübl schmollend in der Ecke steht. Keine Sorge: Ich male nur eine Zukunftsvision. Zukunft in einem bundesdeutschen Kindergarten. In dem Namen wie Philipp oder Laura irgendwann ausgedient haben werden. Dann werden andere Namen Mode werden. So wie in den Vereinigten Staaten. Denn dort findet sich bereits ein ganz neuer Trend. Da stehen große Markennamen Pate für kleine Kinder. Ob Kartoffelschnaps oder Kabelkanal, ob Autohersteller oder Modedesigner: Die großen Konzerne der Vereinigten Staaten können sich mittlerweile freuen, dass eine stets wachsende Zahl von Säuglingen als preisgünstige Werbeträger durch die Gegend krabbelt. Und bei uns geht es auch schon los: Eine Pepsi-Carola gibt es schon. Solange es Menschen gibt, haben sie Namen. Und die sind wichtig. Meistens bedeuten sie etwas. Meiner zum Beispiel bedeutet »Geschenk Gottes«. Und dabei haben sich meine Eltern etwas gedacht. Für sie war ich ein Geschenk Gottes. Und das wird so bleiben, solange ich lebe. Mit diesem Namen lebe. Und das ist ein gutes Gefühl. Mit dem Namen geben Eltern ihren Kindern etwas mit. Auf den gesamten Lebensweg. Fast so etwas wie eine Botschaft fürs Leben. »Lege deinem Kind einen Namen zu, der es in seinen eigenen Augen ehrt«, hat der griechische Philosoph Pythagoras gesagt. Mit anderen Worten: Wie gut mag sich ein Kind fühlen, das ein Leben lang erklären muss, dass es nach einer Zuckerbrause heißt? Und das bei seinen Eltern nicht mehr Hintersinn vermuten kann, als dass die eben auf dieses Getränk stehen.
Omo und McDonald, Agfa und Bräustübl wurden als Namensvorschläge von unseren Standesämtern bisher abgelehnt. Und ich hoffe, dass das auch so bleibt.