WORTE vom 08.-14. Juni 2003

 

ausgewählt von Pfarrer Helmut Siebert, Simmern / Hunsrück, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 08. Juni 2003

Zweifel

Für viele Menschen sind Zweifel das Gegenteil vom Glauben. Für mich nicht, denn Zweifel gehören für mich zum Glauben dazu. Denn gerade durch mein Zweifeln, mein Hinterfragen und Nachdenken gewinne ich eine immer reifere Vorstellung von Gott.
Wo ich den Zweifel zulasse und ihn nicht verdränge, verliert er seine versteckte Gewalt über mein Leben. Denn Glaube und Zwang passen nicht zusammen. Irgendwelche Vorschriften können mir den Glauben nicht vorschreiben, aber irgendwelche Zweifel können mir den Glauben auch nicht verbieten.
Wenn ich mich traue, sogar mit meinen Zweifel an Gott zu glauben, dann bin ich ehrlich: ehrlich gegenüber Gott – und ehrlich mit mir selbst.

nach Ulrich Schaffer

 

Montag, 09. Juni 2003

Fotografieren

Für mich ist das Fotografieren ein Gebet. Ich bin gern allein beim Fotografieren – oder zusammen mit jemand, der auch fotografiert. Beim Beten kann man keine Zuschauer gebrauchen. Und ich brauche auch keine Worte, sondern nur meine Kamera. Durch sie hindurch entdecke ich neue Ansichten von meiner Welt. Wenn ich einen Baum fotografiere, klettere ich mit jedem Bild, das ich schieße, tiefer in den Baum hinein. Ich will den Baum begreifen. Mein Foto soll den Baum so zeigen, wie er auf mich wirkt. Ich bete mit Objektivwahl, mit Belichtungszeit und Tiefenschärfe – und weiß doch, dass es nur ein Bild ist. Aber es ist eben mein Bild. Und jemand anders macht sich ein eigenes Bild von diesem Baum. Und in ein paar Jahren wird dieser Baum anders aussehen als auf meinem Foto – und ich werde ihn wieder neu fotografieren müssen.

nach Ulrich Schaffer

 

Dienstag, 10. Juni 2003

Kleinigkeiten

Wir leben in einer Zeit der Superlative: Alles muss immer weiter, höher, mächtiger und beeindruckender sein. Wir überschlagen uns dabei, das Alte immer neu zu übertreffen. Aber wir bestehlen uns doch, wenn wir nur von Höhepunkt zu Höhepunkt leben und alles Dazwischen nur schlecht und recht in Kauf nehmen. Mein Leben setzt sich aus einer Unzahl von Wiederholungen zusammen, die mich entleeren, wenn ich nicht lerne, mit ihnen umzugehen. Ich glaube, dass sich die innere Reife eines Menschen im Umgang mit den Alltäglichkeiten zeigt. Es geht um das bewusste Verrichten der täglichen Kleinigkeiten. Aufstehen, waschen, frühstücken, telefonieren, arbeiten und so weiter: Ich glaube, dass der Weg in das Kleine und Unscheinbare, in das Vorsichtige und Unauffällige, in das Alltägliche noch offen steht. In dieser Richtung gibt es ungeahnte Schätze zu entdecken.

nach Ulrich Schafffer

 

Mittwoch, 11. Juni 2003

Warten

Beten bedeutet warten – und wir verbringen viel Zeit mit Warten: beim Arzt, auf das Ende der Woche, auf das Essen, auf ein Ergebnis. Warten kann ein Überbrücken oder sogar Wegwünschen der Zeit sein. Aber das Warten kann auch etwas besonderes sein: eine Zeit der Vorfreude und der Vorbereitung. Ich verstehe das Warten als Chance, mich auf das einzustellen, was gleich passiert. So zu warten, bedeutet, den Rhythmus des Lebens zu spüren – und zu begreifen, dass nicht alles immer sofort geschieht, weil alles im Leben seine Zeit und seinen Raum braucht. So ein Warten ist ein Gebet, ein Gebet vielleicht ganz ohne Worte, weil im Warten einfach nur wahrgenommen wird, wie sich das Leben entwickelt.

nach Ulrich Schaffer

 

Donnerstag, 12. Juni 2003

Essen

Essen bedeutet Beten. Und damit meine ich nicht diese Tischgebete wie "Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast", die uns schließlich im Halse stecken blieben. Pflicht-Gebete sind genauso schlimm wie Essen ohne Appetit. Wenn Essen für mich Beten sein soll, dann will ich riechen und schmecken und vielleicht auch schlürfen und schmatzen: Dann will ich genießen. Und das nicht nur bei einer opulenten Fest-Mahlzeit, sondern auch bei dem Stück Brot und bei dem Biss in den Apfel und bei dem Schluck kühlen Wassers, der mir die Speiseröhre runterrinnt. Ich will kauen und schlucken und dieses Wunder spüren, dass mein Körper von diesen Lebensmitteln leben kann. Und ich bin dankbar für dieses Wunder, von dem ich selber ein Teil bin.

nach Ulrich Schaffer

 

Freitag, 13. Juni 2003

Schweigen

Das Schweigen ist beim Reden das Wichtigste – und beim Beten auch. Nicht nur die Worte sprechen, sondern auch die Stille, welche die Worte voneinander trennt, spricht. Worte bekommen ihr Stärke und ihr Gewicht von dem Schweigen, das sie umrahmt. Wenn wir zuviel reden, wirken wir komisch oder sogar unglaubwürdig. Unsere Worte werden billig. Ihnen fehlt die Stille des Nachdenkens und die vertrauensvolle Verschwiegenheit. Alle guten Gespräche brauchen deshalb auch Zeiten des Schweigens. Und so ein Schweigen kann mehr bedeuten als tausend Worte. Das gleiche gilt für Gebete, unsere Gespräche mit Gott: Wer da keine Worte findet, sondern nur schweigt, sagt vielleicht gerade das Wichtigste.

nach Ulrich Schaffer

 

Samstag, 14. Juni 2003

Schlafen

Die Kunst des Nichtstuns, vielleicht sogar des Faulenzens, haben wir verlernt. Wir können nicht glauben, das wir nichts mehr machen können. Irgendetwas ist immer noch zu tun, denn wozu bin ich sonst denn da? Mit unserer Überaktivität drücken wir unseren Unglauben aus. Und oft wird das Schlafen ja auch als Gegensatz zum Beten gesehen. Ich möchte das Schlafen lieber als "Gebet des Vertrauens" bezeichnen. Ich rede hier nicht vom Schlafen, das Flucht oder Resignation bedeutet: ein in den Schlaf ausweichen, um dem Leben nicht mehr zu begegnen. Ich rede von einem vertrauenden Ausruhen und Schlafen. Ausruhen und Schlafen zu können ist ein Zeichen des Glaubens. Ich zeige damit, dass nicht alles von mir abhängt. Denn meine Leistung ist aufgehoben in einem größeren Zusammenhang.

nach Ulrich Schaffer