GEDANKEN vom 07.-13.12.2003

 

ausgewählt von Pfarrer Roland Spur, Esslingen, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 07. Dezember 2003

Noam Chomsky; Textbezug: Jesaja 65, 14f.

Er gilt als so etwas wie der Popstar unter den Globalisierungskritikern. Noam Chomsky, der Sprachwissenschaftler aus Boston, nebenher legendärer Polit-Kritiker und Autor. Er tritt sogar in Liedtexten oder auf Plattencovers von Rockgruppen wie »Pearl Jam«, »Burnt By The Sun« oder »Bad Religion« auf.
Er ist Spross einer aus Russland nach Amerika ausgewanderten jüdischen Familie. Mit 32 ist er Professor geworden für Moderne Sprachen am Massachusetts Institute of Technology, Amerikas intellektueller Kaderschmiede.
Noam Chomsky war aufgefallen, dass fast alle Kinder in ungefähr derselben Zeit und in ungefähr denselben Schritten lernen, unabhängig davon, ob es sich dabei um Englisch, Hopi oder Chinesisch handelt. Seine These: Alle Sprachen gründen auf derselben Struktur. Und es bedarf nur eines kleinen Anstoßes, damit geschehe, was von Anbeginn geschehen sollte: der Geist der Sprache sorgt selbst dafür, dass sich Vernunft entwickelt und eine unendliche Variation von Sätzen möglich wird: der menschliche Geist, unser Wissen, folgt nach Chomsky einer angeborenen Grammatik. Wie eine DNS des Denkens. Ergebnis: 10 Ehrendoktorhüte führender Universitäten innerhalb und außerhalb der USA.
Und der andere Chomsky, dieser gefürchtete Kritiker amerikanischer Politik? Woher kommt die Faszination seiner Analysen und Erklärungen? Ich glaube, weil er Kriege, Terroranschläge – überhaupt die weltweiten Konflikte sachlich erklären kann. Sie kommen aus den herrschenden Strukturen der Marktwirtschaft, sie folgen einer eigenen "Grammatik der Weltwirtschaft". Noam Chomsky kommt als scharfer Kritiker amerikanischer Politik ohne Dämonisierung oder Verteufelung von Politkern aus. Das macht den Charme seiner klugen Bücher und Reden aus. Und dass er daran festhält: "eine andere Welt ist möglich!" Die »New York Times« hat ihn zum "wichtigsten lebenden Intellektuellen unserer Zeit" ausgerufen. Heute feiert er seinen 75. Geburtstag. Glückwunsch und Gott befohlen!

»Die früheren Ängste sind vergessen und vor meinen Augen entschwunden. Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.« Jesaja 65, 14f.

 

Montag, 08. Dezember 2003

Kim Basinger; Textbezug: Ezechiel 19, Vers 2

Kim Basinger zählt zu den Top-Schauspielerinnen in Hollywood. Traumhaft wirkt ihr Aufstieg, von der Schönheitskönigin zur gefeierten Schauspielerin. Kim Basinger – die Verkörperung von Mädchenträumen: vom Modell zur Mimin, mit einem Oscar! Zugegeben, ein Klischee. Und es lief auch gar nicht so.
Ihre Biographie beginnt mit dem klassischen Märchenmotiv vom hässlichen Entlein. Was man kaum verstehen kann: Kim fühlt sich hässlich, ist scheu und ängstlich. Gott sei Dank erkennen die Eltern die Probleme ihrer Tochter und schicken sie zum Ballettunterricht. Schließlich überwindet Kim ihre Schüchternheit und findet ihr Selbstvertrauen: mit 16 ein schöner Schwan! Sie kann sich zeigen und wird zur Schönheitskönigin ihrer Heimatstadt Athens in Georgia gewählt. Sie zieht nach New York und wird dort ein gefragtes Fotomodell.
Doch sie ist mehr als Anziehpuppe und Covergirl. Kim Basinger gibt die Model-Karriere auf, um Schauspielerin zu werden. Dann als Bondgirl der Durchbruch in »Sag niemals nie«, berühmt geworden durch »9½ Wochen« – die Femme fatale in »Eiskalte Leidenschaft«. In »8 Mile« spielt sie die Rolle der schlampigen Mutter von Jimmy «Rabbit» Smith Jr., die irgendwie lose der Biographie von Eminem (M’n’M) Marshall Mathers folgt.
Und in »Die Prophezeiung«, dem übernatürliche Thriller mit dem umgekehrten Flammenkreuz auf dem Cover, spielt sie eine Ersatzmutter. Maggie O' Connor wird am Weihnachtsfest von ihrer Schwester Jenny mit ihrem neugeborenen Baby überraschend besucht. Doch im Streit haut die Drogenabhängige genauso schnell ab wie sie gekommen ist, und hinterlässt ihrer Schwester das Baby. Tante Maggie nimmt sich des Babys an, behutsam zieht sie das verhaltensauffällige (autistische) Kind auf. Kim Basinger als Beschützerin des Guten und als Kämpferin gegen das Böse mit all den übersinnlichen Zutaten, die momentan durch so viele Kinofilme flimmern. »Bless the Child« – so heißt der Film im Original. Eigentlich ein ganz weihnachtlicher Titel. Kim Basinger wird heute 50, bless you! Glückwunsch!

»Ach, eure Mutter war wie eine Löwin, im Kreis der andern Löwen hoch geachtet, umgeben von den Jungen, die sie großzog.« Ezechiel 19, Vers 2

 

Dienstag, 09. Dezember 2003

Friedensnobelpreis Shirin Ebadi; Textbezug: Matthäus 5, 9

Morgen bekommt die Iranerin Shirin Ebadi in Oslo den Friedensnobelpreis überreicht. Den hat Alfred Nobel gestiftet. Der hat das Dynamit erfunden. Was das Nobelkomitee da entschieden hat, enthält auch ein bisschen Dynamit. Reformfreudige Iraner haben gejubelt, aber der fundamentalistische Wächterrat in Teheran hat sich nicht so gefreut.
Ganz schön pfiffig, diesen Preis Shirin Ebadi zuzuerkennen, der Anwältin, der Dozentin, der Autorin und Aktivistin im Kampf um die Rechte von Frauen und Kindern, der die Mullahs Berufsverbot als Richterin erteilt haben.
Denn Shirin Ebadi ist bewusste Muslima. Sie sieht keinen Gegensatz zwischen dem Islam und den grundlegenden Menschenrechten. Ebadis Kampagnen für die Rechte von Frauen, Kindern und Inhaftierten basieren auf der klaren Interpretation des islamischen Rechts, wonach allen Bürgern Gleichheit vor dem Gesetz garantiert ist. In der Begründung heißt es: »Sie ist mit großem Mut aufgetreten und ist vor Gefahren für ihre eigene Sicherheit niemals zurückgescheut. Die islamische Welt kann stolz auf diese Frau sein!«
Ja, ich finde, das Norwegische Nobelkomitee hat ganz pfiffig entschieden, denn Shirin Ebadis Wahl enthält zwei segensreiche Botschaften. Einmal an die muslimische Welt: Menschenrechte sind Grundwerte, die Moslems wie Nicht-Moslems teilen. Eine Verurteilung aller Gewaltakte muslimischer Extremisten.
Und die Wahl signalisiert dem Westen, dass der Wandel aus der Gesellschaft selbst heraus geschehen soll. Wenn der Iran diesen Wandel von sich aus, von innen heraus schafft, und wenn er dabei nicht von außen gestört wird, wird dies das schönste Signal überhaupt, an die gesamte Welt!
Es gibt wie gesagt keinen Gegensatz zwischen dem Islam und den grundlegenden Menschenrechten. Das muss im Iran herumsprechen. Und es muss sich auch in unserer westlichen Welt herumsprechen. Shirin Ebadi ist eine jener Stimmen im lebenswichtigen Dialog der Zivilisationen. Wir können es uns nach den Anschlägen nicht länger leisten, diese Stimmen zu belächeln oder zu überhören.

»Selig sind die Friedensstifter!« hat Jesus gesagt. »Gott wird sie als seine Söhne und Töchter annehmen.« Matthäus 5,9

 

Mittwoch, 10. Dezember 2003

Luther verbrennt; päpstliche Kirchenbannandrohungsbulle

Im Jahr 1520 ist Martin Luther als Ketzer angeklagt. Wenn er nicht binnen 60 Tagen seine Schriften widerrufe, dann wird er gebannt, also von den kirchlichen Sakramenten ausgeschlossen. In einigen deutschen Städten lodern bereits Scheiterhaufen mit Luthers Schriften. Aber es gibt auch – wie in Mainz – Widerstand. Die Bücherverbrennungen bewirken das Gegenteil von dem, was der päpstliche Vertreter damit erreichen wollte.
Am 10. Dezember läuft die Frist zum Widerruf ab. In Wittenberg kann man durch öffentlichen Anschlag lesen, dass »alle Freunde der evangelischen Wahrheit aufgefordert werden, sich um 9 Uhr an dem im Osten der Stadt gelegenen Elstertor einzufinden.«
Dort wird sein Holzstoß angezündet, Martin Luther wirft das päpstliche Schreiben in die Flammen. »Weil du den Heiligen Geist gekränkt hast,« sagt er dabei, »deshalb verzehre dich das ewige Feuer!« Außerdem werden päpstliche Gesetzessammlungen verbrannt. Und auch Schriften zur Zinsfrage vom Haustheologen der Fugger, von Johannes Eck werden ein Raub der Flammen. Studenten singen »Te Deum laudamus«, »Herr Gott, dich loben wir«. Ein paar zelebrieren ein Totenamt. Luther und die große Zahl von Dozenten und Studenten kehren in die Stadt zurück: ein Augenzeugenbericht existiert. – Vor dem Elstertor hat man traditionell die Kleider der Pestkranken verbrannt.
Was ist das nun gewesen am 10. Dezember 1520? Ein derber Studenten-Ulk mit Beerdigungselementen? Ein Happening? "Show-Einlagen müssen sein" – so verläuft nun mal Geschichte! Der Kinofilm »Luther« bringt dieses Ereignis auch. Kirchenbann: Formalrechtlich ein Ausschluss von den Sakramenten, nicht von der Kirche! Aber es läuft auf dasselbe hinaus. Luther hatte sich zwar immer wieder bereiterklärt, falls man ihm einen Denkfehler, einen Irrtum nachweist, sich zu unterwerfen. Jetzt aber wird Luther gebannt, ohne Chance sich rechtfertigen zu können. Die Kirche des Papstes hat sich so von ihm getrennt, nicht er von ihr.
Unglaublich, dass der Kirchenbann gegen Luther bis heute nicht aufgehoben worden ist.

 

Donnerstag, 11. Dezember 2003

Advent ist kein Event; Textbezug: Lukasevangelium, Kapitel 2

Der rote Teppich, die Streched-Limo, das strahlende Lächeln im Blitzlichtgewitter der Fotografen. So sieht der Auftritt von Stars aus, ob in Venedig oder Cannes, ob bei der Bambi- oder der Oscar-Verleihung. Man "kommt an", in unsrer Medien-Glitzerwelt. Ein Zeremoniell, ein Ritual.
Ob feierlich oder schrill – das ist nichts Neues. Bei jeder Ankunft mit Popstars, Pomp und kreischenden Publikum lebt etwas Uraltes fort. Vor 2000 Jahren haben griechische Könige und römische Kaiser die Begegnung mit dem Volk perfekt inszeniert: mit Münzregen und Wunderheilungen, mit Speisung für die Tausend – was für ein glanzvoller Auftritt! Alles war hingerissen. Dieses feste Polit-Ritual heißt lateinisch »adventus«. Zu deutsch »Ankunft«. Von dem »adventus divi«, also der "Ankunft des vergöttlichten römischen Kaisers", kommt unser Wort für die vier Wochen vor Weihnachten: Advent.
Das Wort » Advent« mag gleich sein, aber es bezeichnet nun was völlig anderes. Denn es ist ja kein vergleichbares Spektakel. Advent ist kein Event. Im Gegenteil, was die Bibel da erzählt, wie die Römer durch Steuerschätzung einen Volksaufstand provoziert haben, wie ein besorgter Zimmermann seine hochschwangere Maria in die Berge in Sicherheit bringt, wie sie als Flüchtlinge aus dem Krisengebiet Galiläa bei ihrer Herbergssuche scheitern, wie die Frau ihren ersten Sohn im dreckigen Viehstall entbindet, und dass sie ausgerechnet von Hirten Besuch bekamen, die in den Augen der Bürger von Bethlehem praktisch als Banditen galten, das hat alles nichts mit einer medialen Hofberichterstattung unserer Popadligen zu tun. Und dass da in dieser Geschichte nur ein einziger Stern vorkommt, der vom Himmel aus zugeschaut haben soll, klingt wie eine spätere Ironie.
Und doch ist es ausgerechnet die Ankunftsgeschichte Gottes in unserer Welt. Er hat sich nichts mit rotem Teppich, Palast oder parfümiertem Luxus ausgesucht. Sondern Not, Elend und Dreck. Das Dunkel, das sucht er auf: peinlich! Gott hat schon einen bizarren Geschmack. Sein Advent kein Event. Ob er damit bei Ihnen "ankommt"?

 

Freitag, 12. Dezember 2003

ein Lutherwort; Textbezug: Römerbrief 12, Vers 2

Ist es nicht ein kleines Wunder, dass ein Wort aus einer längst vergangenen Zeit so frisch wirkt, dass einen direkt anspricht?
So ein Wort ist für mich ein kleiner, kurzer Text von Martin Luther, der jetzt als "Kinoheld" von vielen wieder entdeckt wird. Was war das eigentlich für Mensch?
Was Luther da übers Christsein sagt, klingt nicht nur verständlich, und modern, sondern das lebt und atmet den Geist des Evangeliums Jesu. Die ersten Jüngerinnen und Jünger waren nicht nur rein äußerlich immer wieder unterwegs und in Bewegung, sondern auch das Christentum, wo es die Sache Jesu weitertreibt, müsste ja auch was mit Bewegung zu tun haben. Bei allem Beharrungsvermögen, was übrigens alle großen Institutionen auszeichnet und worunter sie leiden: Kirche muss auch immer unterwegs sein. Die Kirche muss sich bewegen, sich entwickeln, sich verändern: Kirche muss sich immer reformieren. Findet Luther.
Reformieren meint ja »Erneuern im ursprünglichen Geist Jesu«. Und Jesus war unterwegs: immer! Unterwegs zu den Menschen. Und überhaupt unterwegs sein zu dem strahlenden Ziel, das Gott für die Menschheit bereithält. Martin Luther sagt übers Christsein:
Das christliche Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht Sein, sondern ein Werden, nicht Ruhe, sondern eine Übung. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles!

»Passt euch nicht den Maßstäben dieser Welt an. Lasst euch vielmehr von Gott umwandeln, damit euer ganzes Denken erneuert wird. Dann könnt ihr euch ein sicheres Urteil bilden, welches Verhalten dem Willen Gottes entspricht, und wisst in jedem einzelnen Fall, was gut und gottgefällig und vollkommen ist.« Römerbrief Kapitel 12, Vers 2

 

Samstag, 13. November 2003

Worauf warten wir eigentlich?; Textbezug: Sacharja 9, 9 bis 10

Die Adventszeit ist eine Zeit der Erwartung. Meist scheint es ja so, als warteten wir endlos. Auf bessere Wirtschaftsdaten. Darauf, dass die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Auf ein Ende der Gewalt im Nahen Osten. Nichts scheint sich zu ändern. Es gibt niemanden, der Lösungen parat hätte.  Oder man will auf die Leute nicht hören, die warnen, dass jedes Dreinschlagen und jede weitere Demütigung der Welt nur neue Gewaltbereitschaft und Attentäter beschert. Warten kann furchtbar sein. Langweilig oder quälend, kann tote, vertane Zeit sein.
Worauf warten wir eigentlich im Advent? Es ist Gott selbst, den wir erwarten. »Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze« heißt es in der Bibel. »Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.« (Sacharja 9, 9) Er wird allen Völkern den Frieden bringen, eine alte Verheißung. Wenn Gott kommt, dann kommt der Himmel auf die Erde, dann wird abgerüstet und die Sehnsucht nach Frieden gestillt. Dann werden Konflikte überwunden und Kriegswunden geheilt: »Ich will die Wagen wegtun aus Ephraim und die Rosse aus Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden,« heißt es da. »Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum anderen und vom Euphrat-Strom bis an die Enden der Erde.« (Sacharja 9, 10)
Wenn wir uns die Terroranschläge in der Türkei vergegenwärtigen – die Gewalt im Nahen und Mittleren Osten, dann kommt uns die biblische Verheißung des Propheten Sacharja vor wie aus einer anderen Welt. Jedenfalls ganz schön naiv, wie darin einer daherkommt und Frieden schaffen will: Sanftmütig und arm ist er, reitet auf einem Esel. Falscher Film?
Andererseits: Hier kommt einer, der wirklich Frieden bringt, weil er selber auf alle Insignien der Macht verzichtet. Kein Mitglied der Spezialeinheit S.W.A.T. – keine "Special Weapons and Tactics".
Vielleicht lässt sich die Logik der Gewalt ja nur durch eine Logik aus einer anderen Welt außer Kraft setzen! Er stiftet Frieden, indem er die Herzen der Menschen verwandelt.
Die Menschen verwandeln! Das ist seine wahrhaft königliche Aufgabe.