GEDANKEN vom 23.-29.11.2003

 

ausgewählt von Pfarrer Dr. Peter Haigis, Kernen, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 23. November 2003

Selige Mutter Theresa

Einen "Engel der Barmherzigkeit" hat man sie genannt: Menschgewordene christliche Nächstenliebe – Mutter Theresa. Vor einigen Wochen wurde sie vom Papst "seliggesprochen". Auch das hat sie zu einem Denkmal werden lassen. Für viele ist sie ein Sinnbild aufopfernder Hilfsbereitschaft.
Blickt man auf ihr langes Leben zurück, so wird man wenig Aufgeregtes und Bewegtes finden. Dafür eine treue und verlässliche Gegenwart am Lebens- und Sterbensort der Ärmsten unter den Armen. Mit ihnen hat sie ihr Leben geteilt und damit zugleich den eigenen Möglichkeiten von Karriere und Lebenskomfort eine radikale Absage gegeben.
Für mich bleibt im Nachdenken über Mutter Theresa ein widersprüchliches Gefühl zurück: Einerseits die Beruhigung. Es tut einfach gut zu wissen, dass es Menschen gibt, die in aller Aufrichtigkeit karitative Dienste leisten. Die helfen, wo immer sie gebraucht werden. Ohne auf die eigene Brieftasche oder ihr öffentliches Ansehen zu achten. Es tut gut, von solchen Menschen zu wissen, weil es auch entlastet. Das kann zur Beruhigung des eigenen Gewissens werden. Jemand anderes tut, was ich mir selbst nicht zumuten kann oder will.
Mutter Theresa hat für mich aber zugleich etwas Beunruhigendes. Dass ein Mensch so konsequent uneigennützig handelt, nichts für sich selbst reklamiert – das finde ich beunruhigend, ja fast beängstigend. Kann man so leben? Muss man so leben?
Unausgesprochen bleibt da die Frage an mich im Raum, ob ich meine Möglichkeiten, Nächstenliebe zu praktizieren, wirklich schon ausgeschöpft habe. Oder ob ich nur den bequemeren Weg gegangen bin und nun – im Schatten einer großen Persönlichkeit – mich darüber beruhigen kann, dass es ja andere gibt, denen das Unbequeme wohl eine besondere Herausforderung ist.
So wird für mich Mutter Theresa zu einem Denkmal der anderen Art.

 

Montag, 24. November 2003

Selig sind die Geistlich Armen

Ein Stück Weltliteratur ist sie geworden – die Bergpredigt Jesu. Trotz der Zumutungen, die sie enthält. Vielleicht auch gerade deswegen. Weil man sich dann ihren Herausforderungen leichter entziehen kann. Man macht ein Denkmal daraus und stellt es auf einen Sockel. Doch die Aussprüche Jesu, die in der sogenannten "Bergpredigt" zusammengestellt sind, bleiben kantig: Dem, der einen schlägt, die andere Wange auch noch hinhalten ... Die Feinde lieben ... Sein Leben nicht dem Anhäufen von Kapital und Besitz widmen, sondern der Gerechtigkeit Gottes ... und so weiter. Das sind die Zumutungen Jesu.
Die berühmte Spruchsammlung beginnt aber nicht mit Forderungen. Sie beginnt mit einer Reihe von Grüßen, die Perspektiven fürs Leben eröffnen. Nicht eine Zumutung, sondern ein Zuspruch steht am Anfang. Der erste Glückwunsch gilt vor allem den Bescheidenen, denen, die sich nichts einbilden auf sich selbst: In der traditionellen Sprache der Bibel – den "geistlich Armen". "Im Namen Gottes, ich gratuliere euch, ihr, die ihr arm seid im Geist", sagt Jesus.
Wen meint er damit?
Mit Sicherheit nicht Menschen mit niedrigem IQ, wie man es spöttisch deutete. Gewiss auch nicht die, die ihr Hab und Gut verkaufen und in materieller Armut leben. Die "geistlich Armen" – das sind vielmehr die im religiösen Sinn bescheidenen Menschen. Diejenigen, die nicht Amt und Würde noch Rang und Namen besitzen. Diejenigen, die keine besonderen theologischen Kenntnisse haben. Diejenigen, die keine großen Bekehrungsgeschichten, keine religiösen Erlebnisse, Erleuchtungen oder sonst etwas vorzuweisen haben. Es sind Menschen mit einem einfachen und bescheidenen Glauben. Menschen, die Gott vertrauen, so wie Kinder vertrauen.
"Ich gratuliere euch, ihr, die ihr Gott vertraut wie nur Kinder vertrauen können" – sagt Jesus. "Ihr seid die Propheten, die Träumer und Visionäre für Gottes neue Welt."

 

Dienstag, 25. November 2003

Selig sind die Friedensstifter

Auf dem Platz vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York steht eine Skulptur. Sie zeigt einen muskulösen Mann, der mit einem Hammer ein Schwert bearbeitet. Wie ein Schmied schlägt er den Stahl der Waffe und gibt ihm eine neue gerundete Form – die Form einer Pflugschar.
Die Sowjetunion hat den Vereinten Nationen mitten im Kalten Krieg diese Skulptur zum Geschenk gemacht. Vielleicht, um die Weltorganisation an sich zu binden. Vielleicht, um ihr ein sozialistisches Denkmal zu setzen. Denn der Schmiedehammer und das zur Pflugschar gebogene Schwert erinnern an Hammer und Sichel, die Embleme des Sowjetstaates.
Wichtiger als das jedoch ist der biblische Bezug dieses Denkmals: Schwerter sollen in Pflugscharen verwandelt werden und Spieße in Winzermesser. Aus Kampfwaffen werden landwirtschaftliche Geräte. Menschen sollen nicht mehr das Kriegshandwerk lernen, sondern das, was dem Frieden dient und das Leben fördert. So haben es zwei Propheten des Alten Testaments in ihrer Vision einer besseren Zukunft für diese Erde gesehen.
Vor genau zwanzig Jahren hat ein Schmied gezeigt, dass das prophetische Bild von den Schwertern, die in Pflugscharen verwandelt werden, mehr ist als eine große Vision – und auch mehr als ein wuchtiges Denkmal. In einer öffentlichen Aktion hat er ein Schwert zu einer Pflugschar umgeschmiedet. In Wittenberg. In der ehemaligen DDR. Ausgerechnet da! Und das hatte Symbolwirkung. Damit hat er der Friedensbewegung in Ost und West den Rücken gestärkt: "Ihr seid auf der richtigen Spur, auf der Spur, die Gott für diese Welt vorgezeichnet hat" – konnte das heißen.
"Glücklich dürfen sich die Friedensbewegten nennen", sagt auch Jesus, "denn sie sind die wahren Kinder Gottes."

 

Mittwoch, 26. November 2003

Selig sind die Sanftmütigen

"Sanftmut den Männern! Großmut den Frauen! Liebe uns allen, weil wir sie brauchen" – lautet die erste Strophe eines südafrikanischen Hymnus.
So ein Lied kommt aus gerechnet von dort, wo vor 90 Jahren das Unrecht, das weiße Siedler einheimischen Schwarzen bereits lange Zeit angetan hatten, für rechtsgültig erklärt wurde. Mit grausamen Folgen : Angestammte Familien verloren ihren Landbesitz und damit – als Bauern – ihre Existenzgrundlage. Schwarze erlitten Zwangsumsiedlungen. Die Unrechtsgeschichte der Apartheid nahm ihren Lauf. Im eigenen Land waren die Schwarzen zu Randsiedlern geworden.
Bald hundert Jahre später haben sich die politischen Verhältnisse geändert. Soziales Unrecht aber hat lange Halbwertszeiten. Immer noch warten Familien auf ihre Rücksiedlung. Immer noch warten viele darauf, wieder zu rechtmäßigen Landbesitzern werden zu können. Doch das Eigentum an Grund und Boden ist vergeben und die heutigen Besitzer lassen sich nicht enteignen. Das einstmalige Unrecht hat sich in neue Rechtszustände verwandelt. Besitzanspruch steht gegen Besitzanspruch. Fast zynisch muss es da klingen, wenn die Weltbank den schwarzen Anwärtern "günstige Kredite" anbietet, damit sie ihr Land zurückkaufen können.
"Selig sind die Sanftmütigen" sagt Jesus am Anfang der sogenannten "Bergpredigt". "Glücklich dürfen sich die Sanftmütigen schätzen, denn sie werden das Land besitzen." Höhlt der stete Tropfen am Ende auch den Fels des Unrechts aus?
Der politische Kampf für ein Südafrika ohne Rassenschranken hat viel Blut und Leben gekostet. Und noch sind nicht alle Wunden verheilt. Nur Respekt und Beharrlichkeit befreit das Land und seine Bewohner, Ehrfurcht den Starken! Mut den Gejagten! Friede uns allen, weil wir ihn brauchen."

 

Donnerstag, 27. November 2003

Selig sind die Leidtragenden

Am Beginn der berühmten "Bergpredigt" Jesu stehen einige kurze Glückwünsche. "Seligpreisungen" werden sie traditionell genannt. Ihrem Sinn nach sind es Gratulationen. "Ich beglückwünsche euch", sagt Jesus – und dann folgt eine knappe Aufzählung: Jesus gratuliert denen, die ihr Leben besonderen Tugenden gewidmet haben und nach ihrem Richtmaß leben: Er gratuliert den Bescheidenen, den Gewaltlosen, den Barmherzigen, den Friedensstiftern. Ihnen gehört die Zukunft.
Doch er gratuliert auch anderen – solchen, die nichts zu bringen haben, deren Hände leer sind und deren Augen sich danach sehnen, etwas zu empfangen: den Leidtragenden, denen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, den Verfolgten, den Geschmähten und Unterdrückten. Warum ihnen? Sollen sie sich freuen? Wie kann ihnen die Zukunft gehören? Das erscheint wie ein glatter Widerspruch!
Jesus sieht das Leben der Menschen im Licht Gottes an. Für ihn hat sich Gott nicht aus dieser Welt zurückgezogen und hält sich nun auf einer Insel der Seligen verborgen. Jesus findet Gott da, wo Menschen leben – im Glück und im Unglück, im Erfolg wie im Misserfolg, im Lachen und im Trauern. Gott und menschliches Leid streben nicht auseinander wie Wasser und Öl. Das eine schließt das andere nicht aus – im Gegenteil: Gott schließt menschliches Leid ein.
Wenn Jesus die Leidtragenden beglückwünscht, dann nicht wegen ihres Leids, sondern um Gottes willen. Er hat eine Vision vor Augen. Die Vision von Gott, der die Menschen nicht alleine lässt, sondern ihnen entgegen kommt. Er sucht die Gemeinschaft mit ihnen um sie zu trösten. Deshalb dürfen sie sich glücklich schätzen. Die Seligpreisungen Jesu sind die Grußworte des Gottes, der den Menschen begegnet. "Ich grüße euch", sagt Gott, "euch, die ihr Leid tragt und Unrecht leidet. Ich grüße euch. Nun bin ich für euch da. Und will euch trösten"

 

Freitag, 28. November 2003

Selig sind die Barmherzigen

Im Oktober 1915 begleitete eine junge schwedische Diplomatentochter einen Transport des Roten Kreuzes, um gesammelte Hilfsgüter in sibirische Gefangenenlager zu bringen – Elsa Brändström.
Ein Jahr lang zog sie durch ein schier endloses Land. Sie war fasziniert von der Weite der Landschaft – und zugleich erschrocken über die grausamen Lebensbedingungen in den Lagern.
Der ersten Reise folgte bald eine zweite, dann eine dritte. Eine Lebensaufgabe tat sich für die junge Frau auf. In den Lagern, die sie besuchte, war sie sich nicht zu vornehm für das Elend der leidgeprüften Gefangenen. Und sie besaß ein feinfühliges Gespür in den Verhandlungen mit Lagerkommandanten, um Verbesserungen für die Gefangenen durchzusetzen.
Nicht alle Gefangenen kehrten 1918 zurück, viele mussten bleiben. Am Sterbelager versprach sie manchen, sich um die Hinterbliebenen in der Heimat zu kümmern. In den zwanziger Jahren unternahm sie zahlreiche Reisen durch Europa und die Vereinigten Staaten und trieb Spendengelder ein. Bis sie ihr Versprechen einlösen und ein Erziehungsheim für Kriegswaisen aufbauen konnte.
Wegen ihres unermüdlichen Einsatzes hat man sie später den "Engel von Sibirien" genannt. Sie mochte diesen Titel selbst nicht gerne hören. Aber eigentlich ist er gar nicht so unpassend: "Engel" heißt Bote – und Elsa Brändström war eine Botschafterin der Liebe Gottes zu den Menschen. Sie betrachtete die "Diplomatie der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit" als ihren persönlichen Auftrag.
"Seid gesegnet, ihr, die ihr barmherzig seid im Umgang mit anderen. Ihr, die ihr eure Phantasie und Kreativität den Aufgaben der Nächstenliebe schenkt" – sagt Jesus am Beginn seiner berühmten "Bergpredigt". "Ihr werdet selbst zu Beschenkten werden."

 

Samstag, 29. November 2003

Selig sind, die hungern nach Gerechtigkeit

Jesus hat selbst nichts geschrieben. Andere haben über ihn geschrieben, erzählen von ihm, überliefern seine Worte der Nachwelt. Zum Beispiel das Matthäusevangelium: Der Verfasser hat eine ganze Reihe von Sprüchen Jesu gesammelt und zu Reden zusammengestellt. Am berühmtesten vielleicht die so genannte "Bergpredigt". Der Titel ist irreführend. Keine Predigt, keine Rede Jesu ist das sondern eine Spruchsammlung.
Doch die Zusammenstellung macht durchaus Sinn. Im Rahmen des Matthäusevangeliums wirkt die "Bergpredigt" wie eine "Magna Charta" des Reiches Gottes. Eine Erklärung der Menschenrechte und Menschenpflichten im Licht der großen Vision Gottes für die Menschen. Sie umfasst alles, was für unser Reden und Handeln, für unser Empfinden, für unsere Lebensgestaltung, für unseren Umgang miteinander wichtig ist.
Die Präambel dieser "Magna Charta" des Reiches Gottes sind die "Seligpreisungen". Ein altes Wort! Gemeint sind "Glückwünsche". Nach Matthäus beginnt die "Bergpredigt" Jesu mit einer Reihe von Ermutigungen und Zusagen. Eine lautet: "Glücklich dürfen sich alle nennen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie sollen gesättigt werden."
Wer hier an Jenseitsvertröstung denkt, liegt daneben. Jesus sagt nicht: "Macht euch nichts daraus, wenn ihr hier Unrecht erleidet. Im Himmel wird es euch besser ergehen." Er sagt: "Wer nach Gerechtigkeit hungert, wird satt werden." Da wird ein Horizont der Hoffnung aufgerissen, ohne den jeder Einsatz für Gerechtigkeit sinnlos wäre. Kein Bauer in Kolumbien, kein Schwarzer in Südafrika, keine ehemalige Zwangsarbeiterin aus Polen kann ohne diesen Horizont leben – und keine Friedensgruppe, keine Menschenrechtsvereinigung, kein "Eine-Welt-Laden" kann ohne diese Perspektive kämpfen. Das ist die Motivation. Kampf und Engagement, Beharrlichkeit und Geduld lohnen sich. Denn es wird einen gedeckten Tisch geben.