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GEDANKEN
vom 16.-22.11.2003
ausgewählt von Martin Wolf,
Kaiserslautern, Katholische Kirche
Sonntag, 16. November 2003 (Volkstrauertag)
Schon wieder so ein schwermütiger Sonntag. Schon wieder Trauer
und Totengedenken, zum zweiten Mal in diesem Monat. Vielen ist das
zuviel. Keine Lust auf Novemberdepression.
Lieber raus gehen, auftanken, relaxen. Vielleicht spielt das Wetter
sogar mit. Außerdem verblasst die Erinnerung an die Opfer der
beiden Weltkriege, an die wir heute, am Volkstrauertag, denken
sollen, von Jahr zu Jahr mehr.
Ganz aktuell dagegen sind die Bilder der Fernsehnachrichten, zum
Teil nur wenige Stunden alt. Bilder vom Krieg, wie fast jeden Abend.
"Für viele Menschen ist es schwer geworden, an die
Möglichkeit des Friedens und der Versöhnung unter den Menschen zu
glauben", schrieb Kardinal Lehmann zu diesem Tag. Recht hat er!
Wer angesichts der Lage im Nahen Osten, in Zentralafrika oder
Tschetschenien an Frieden und Versöhnung glauben will, muss schon
ein unbändiger Optimist sein. Zu groß ist der Hass. Zu mächtig
der unerschütterliche Glaube daran, dass sich die eigenen Ideen am
einfachsten mit Gewalt verwirklichen lassen. Seit dem 11. September
vor zwei Jahren wissen wir, dass das auch uns betrifft.
Anlass zum Trauern also gibt es genug. Doch Sinn macht das nur, wenn
Trauern sich nicht in einem betroffenen Gesichtsausdruck und einer
frommen Sonntagsrede erschöpft. Echtes Trauern ist ein mühsamer
Weg und nicht an einem Tag getan. Aber er bietet die Chance,
Schweres und Belastendes zu überwinden und am Ende einen Neubeginn
zu wagen. Genau das, was die Menschen in den Kriegsgebieten so
dringend brauchen. Ein schöner Traum, gewiss, und vielleicht kommt
ja der Tag, an dem die Massenmörder und Warlords dieser Welt das
auch begreifen. Allein dafür zu beten wäre schon was an diesem
Volkstrauertag.
Montag, 17. November 2003
Perfektes Alibi
Gelogen hat jeder schon mal, meistens wohl mit schlechtem
Gewissen. Schließlich nutzen wir mit jeder Lüge das Vertrauen
anderer aus. Das tut verdammt weh, wenn es herauskommt.
Damit das gar nicht erst passiert, gibt es professionelle Hilfe.
Warum nicht das Lügen einer Alibi-Agentur überlassen. In deren
Werbung heißt es passend: Keine Rechenschaft ablegen,
übermäßige Eifersucht nicht wecken, das Leben genießen. Ein
kleiner Seitensprung geplant? Kein Problem! Für 28 Euro lässt
sich zum Beispiel ein Telefonservice buchen. Nicht mehr selber am
Telefon rumstottern nach der Devise: Es wird heute später,
Schatz. Das erledigt die Agentur viel professioneller, auf Wunsch
sogar mit Rückrufmöglichkeit für die Gattin. Alles natürlich
völlig wasserdicht. Die anonyme Hotel- oder Reisebuchung ist
schon für 89 Euro zu haben. Schlappe 590 Euro schließlich kostet
das permanente Alibi. Als fiktiver Geschäftsmann sich zu jeder
Tages- und Nachtzeit verleugnen lassen. Immer rastlos im Dienst
für das fiktive Unternehmen. Der perfekte Betrug, buchbar im
Internet.
Nur – kann man so ein Leben wirklich genießen? Man muss schon
ziemlich abgebrüht sein, um einem Leben Genuss abzugewinnen, dem
man fast keine faire Chance mehr lässt. Schließlich zahlt man ja
dafür, dass es keine Zufälle und Flüchtigkeitsfehler mehr
bereithält. Die übersehene Hotelrechnung etwa, oder die
ungelöschte Handynummer. Das also, was wir bisher noch als
Schicksal bezeichnet haben.
Etwas nämlich bleibt doch: Der unterschwellige Gedanke, bei aller
gekauften Perfektion etwas Falsches zu tun. Das nicht zu
unterdrückende Gefühl, das Vertrauen eines nahen Menschen
schamlos zu verletzen. Dagegen hilft kein noch so gewiefter
Alibi-Service.
Der Chef der Alibi-Agentur übrigens hält es privat gerne mit der
Ehrlichkeit. Er wird wohl wissen, warum.
Dienstag, 18. November 2003
Wahre Größe
Eine solche Inflation der Superlative gab es noch nie. Die
besten Sänger, die schlausten Denker, die größten Deutschen
aller Zeiten. Auf allen Kanälen wird getestet und gecastet, was
das Zeug hält. Eine Nation im Castingfieber. Das verschont nun
selbst die großen Klassiker nicht mehr. Goethe, Bach oder
vielleicht doch Einstein? Die alten Meister dürften im Grabe
rotieren.
Nun ist der Wunsch, endlich auch mal groß zu sein nichts
Unanständiges. Nicht nur meine Kinder träumen davon. Einmal
berühmt sein, einmal auf der Straße von Wildfremden erkannt
werden. Endlich kein Nobody unter andern Nobodys mehr sein. Ein
Traum von vielen.
Kritisch wird’s erst, wenn der vermeintliche Ruhm dazu herhalten
muss, die eigene Dürftigkeit zu kaschieren. Schließlich ist Ruhm
im Zeitalter der Retorten-Superstars herstellbar wie eine große
Seifenblase, die jederzeit zerplatzen kann. Eine Frage
millionenschwerer Marketingkampagnen und permanenter
Medienpräsenz.
Die gab es in biblischer Zeit natürlich noch nicht. Trotzdem
haben sich die Freunde Jesu schon damals darüber gestritten, wer
denn unter ihnen der Größte sei. Die verblüffende Antwort, die
Jesus ihnen gibt: Wer der Erste sein will, der soll der Letzte und
der Diener aller sein. Eine seltsame Logik! Doch während die
Freunde sich um die Rolle des biblischen Superstars balgten, ging
es Jesus um etwas ganz anderes: Wirkliche Größe, so meinte er
wohl, entsteht eben nicht auf der Bühne oder im
Scheinwerferlicht, sondern verborgen im alltäglichen Leben. Die
zu bekommen ist oft sehr viel schwieriger, doch dafür braucht man
weder Dieter Bohlen noch eine Castingshow .
Mittwoch, 19. November 2003
Büßen und Beten
Eigentlich ist heute ein Feiertag, nur merkt das keiner mehr.
Vor acht Jahren wurde er faktisch abgeschafft, zur Finanzierung
der Pflegeversicherung. Seitdem müssen wir wieder arbeiten,
heute, am Buß- und Bettag. Irgendwie scheint öffentliches Büßen
auch aus der Mode gekommen, und das nicht erst seit acht Jahren.
Wer heute Fehler offen einräumt, hat meistens schon verloren.
Daran hat leider auch der Buß- und Bettag nichts geändert.
Fehler zu machen sei nicht erlaubt, hörte ich kürzlich von einem
Management-Guru. Fehler in Führungspositionen zuzulassen gar ein
gefährlicher Schwachsinn. In der Tat: Welcher Politiker gibt
schon freiwillig zu, sich geirrt zu haben? Welcher Wirtschaftsboss
räumt offen einen Managementfehler ein? Wer überhaupt gibt
bereitwillig zu, Mist gebaut zu haben. Fehler dürfen nicht sein!
Was für den Chirurgen im OP oder den Piloten im Cockpit noch
grundsätzlich gelten mag, ist trotzdem ein unmenschlicher
Anspruch. Letztlich geht es nicht darum, ob wir Fehler machen,
sondern wie wir mit ihnen umgehen. Wenn Fehler dazu führen, dass
einer gnadenlos abgesägt oder öffentlich niedergemacht wird,
dann ist die Bereitschaft gering, diese auch einzugestehen. Da
wird schon lieber gelogen, rumgeeiert und schöngeredet, dass sich
die Balken biegen.
Der Bußtag heute könnte uns daran erinnern, dass Versagen
menschlich ist, so fatal seine Folgen im äußersten Fall auch
sein mögen. Sich dazu offen bekennen zu können, zeugt von
menschlicher Größe. Die fiele freilich leichter, wenn das
Bekenntnis nicht gleich öffentliche Verurteilung und berufliche
Demontage bedeutet. Das wäre die andere Seite menschlicher
Größe. Denn erst das Eingeständnis und die Chance auf Vergebung
machen den Weg offen zu Umkehr und Versöhnung. Genau darum aber
geht es heute, am Buß- und Bettag.
Donnerstag, 20. November 2003
Klösterliche Wellness
Leistung ist Arbeit pro Zeit. Das lernt man schon in der
Schule. Demnach lässt sich die Leistung steigern, wenn man mehr
Arbeit in derselben Zeit erledigen kann. Personalabbau, hübsch
als Verschlankung bezeichnet, funktioniert nach dieser Gleichung.
Wenn einfach jeder, der noch Arbeit hat, mehr ranklotzt, wird es
am Ende schon klappen mit dem Aufschwung. Eine ziemlich einseitige
Vorstellung.
Ein befreundetes Paar, das in einer großen Firma arbeitet, kann
darüber jedenfalls nur müde lächeln. Immer hektischer wird ihr
Beruf, immer mehr Arbeit fällt an, in derselben Zeit. Zeit
füreinander oder gar für Freunde ist kaum noch drin. Die wenige
Freizeit, die ihnen bleibt, ist mit privaten Terminen voll
gestopft. Zeit, mal innezuhalten und nachzudenken - Fehlanzeige.
Das Gerede vom kollektiven Freizeitpark klingt für die beiden wie
Hohn. Unverplante Zeit ist Luxus, nicht nur für sie.
Doch genau die brauchen wir, um als Menschen nicht aus dem
Gleichgewicht zu kippen. Zeit für uns, für einander und auch
für Gott. Die Mönche haben das schon vor vielen Jahrhunderten
erkannt. Ora et labora, bete und arbeite, gab der Ordensgründer
Benedikt seinen Mönchen schon vor 1600 Jahren als Lebensmotto.
Zeit für die Arbeit und Zeit für die Besinnung. Für ihn
gehörte das untrennbar zusammen. In den Klöstern ist das heute
noch so. Was von außen als tägliche Monotonie oder Langeweile
erscheint, ermöglicht in Wirklichkeit erst Freiheit! Freiheit
fürs ich. Wenn ich mich einige Tage in ein Kloster zurückziehe
und mich dem Rhythmus des Lebens dort anpasse, dann ist das für
mich einfach Wellness pur. Denn dort finde ich das, was ich im
Alltag oft so sehr vermisse: Unverplante Zeit. Zeit für mich.
Zeit zum Innehalten und Nachdenken und - gerade darin - auch Zeit
für Gott.
Freitag, 21. November 2003
Illegal
Er heißt Joseph und kommt aus Äthiopien. Von Gesetzes wegen
dürfte es ihn hier gar nicht geben, denn Joseph hat keine
Papiere. Keine Aufenthalts- und keine Arbeitserlaubnis, nicht mal
einen Pass. Behördlich existiert er nicht. Joseph ist ein
Illegaler.
Von Leuten wie Joseph gibt es Hunderttausende in Deutschland. Sie
verdingen sich als billige Arbeitskräfte in Branchen, die sonst
eher schwer Personal finden: Auf Baustellen, in Putzkolonnen oder
in der Gastronomie. Auch Joseph hat schon mehrere Jobs gehabt.
Stets ohne einklagbare Rechte, ohne Sicherheiten und zu
Dumpinglöhnen. Die Angst, entdeckt zu werden, begleitet ihn jeden
Tag. Das nämlich hieße Inhaftierung und Abtransport ins
Heimatland. Krank war er schon mal, im letzten Winter. Da ist er
ohne Arzt ausgekommen. Gott sei Dank, denn ohne
Krankenversicherung und mit wenig Geld wird das ziemlich brenzlig
– auch für den Arzt. Schließlich macht sich jeder, der
Illegalen hilft, selber strafbar.
Die Kirchen und andere versuchen seit einiger Zeit schon, dieses
Problem ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Den Menschen, die
im Verborgenen leben, eine Stimme zu geben, weil sie ja selbst
nicht reden dürfen. Das ist nicht leicht, aber Joseph und die
anderen brauchen endlich eine Lösung, die sich dem Recht ebenso
verpflichtet weiß wie der Menschlichkeit.
Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir
getan, hat Jesus einmal gesagt. Manchmal sind die Geringsten eben
die, die es gar nicht geben dürfte, denn zuerst kommt der Mensch
und dann die Papiere.
Samstag, 22. November 2003
Frei sein bis zum Ende
Ein paar wunderbare Sonnentage hatten wir in diesem November.
Viele werden sie, wie ich, genossen haben. Trotzdem wirft dieser
Monat in jedem Jahr auch Schatten auf unser Gemüt: Allerheiligen,
Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. Tage, die uns daran
erinnern, dass auch die größte Party irgendwann zu Ende geht.
Wann man diese Party allerdings verlässt, dass möchten manche
Menschen gerne selbst entscheiden. Als freie und selbst bestimmte
Menschen, so meinen sie, müssten sie endlich auch selber sagen
können, wann es genug ist mit diesem Leben. Nicht mehr aufs
unausweichliche Ende warten, sondern es aktiv selbst in die Hand
nehmen. Gehen, wenn es am schönsten ist, gewissermaßen. Und weil
viele gar nicht gerne daran denken, müsse halt eine neue
Pädagogik her. Eine, die uns Menschen endlich klar macht, wie
toll das doch ist, sein eigenes Ende zu designen, bevor es nicht
mehr geht. Mit modernster Medizintechnik, versteht sich.
Eine bizarre Debatte. Nach dem Designerbaby nun der Designertod.
Volle Kontrolle vom Anfang bis zum Ende. Die letzten Bereiche, die
vielleicht noch für Gott reserviert waren, hätten wie damit auch
erobert. Endlich sein wie Gott. Ein alter Menschentraum.
Ein Traum, den freilich nicht nur ich als Alptraum empfinde. Wir
schaffen es doch oft nicht mal, unser Leben sinnvoll in den Griff
zu bekommen. Wie sollten wir da frei und souverän über den Tod
verfügen können, den wir noch viel weniger verstehen. Das
Unbegreifliche des Todes erfüllt die meisten von uns noch immer
mit Ehrfurcht. Er ist die Grenzerfahrung schlechthin. Doch gerade
diese Ehrfurcht vor dem Ende ist es, die die Zeit davor so kostbar
macht, so einzigartig und unwiederholbar. Wer meint, er könnte
den Tod in den Griff bekommen, der wird letztlich nur dem Leben
ein Stück seiner Kostbarkeit nehmen. Vielleicht sollten wir
diesen Bereich doch lieber Gott überlassen.
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