GEDANKEN vom 09.-15.11.2003

 

ausgewählt von Pfarrerin Dorothee Wüst, Kaiserslautern, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 9. November 2003

Spannung liegt in der Luft. An jenem Novemberabend des Jahres 1938. Eine ungute Spannung. Eine gefährliche Spannung. In jeder Küche und in jedem Wohnzimmer ist sie zu spüren. Oder zu hören. Das Johlen, das Klirren, das Trampeln der Stiefel. Die so genannte Reichskristallnacht geschieht nicht in aller Stille. Sie geschieht in aller Öffentlichkeit.
Aber die Öffentlichkeit schließt die Fenster und Türen. Damit es nicht um ihre Fenster und Türen geht. Und an diesem Abend geht es nur um die Fenster und Türen der jüdischen Bevölkerung. Um die geht es. Und die anderen können sich einbilden, dass sie das nichts angeht. Deshalb schließen sie Fenster und Türen. Und hoffen auf einen neuen Morgen.
Der neue Morgen kommt. Und bringt zersplitterte Fensterscheiben und niedergebrannte Synagogen. Das Ende der Ausschreitungen gegen Juden, wie manche damals denken. Aber es ist erst der Anfang. Der Anfang des Endes für Millionen. In Majdanek, Auschwitz und Treblinka. Millionen Menschen schließen ihre Fenster und Türen. Und Millionen anderer Menschen werden deportiert und vernichtet.
Ich glaube schon, dass viele nicht gewusst haben, was vor sich geht. Aber nicht, weil man es nicht wissen konnte. Sondern, weil man es nicht wissen wollte. Weil es gefährliches Wissen war. Für das eigene Leben. Deswegen nahm man hin. Und nahm an, dass alles seine Richtigkeit haben würde. Und damit öffnete man Fenster und Türen für ein Regime von Mördern.
Manchmal frage ich mich, wem ich Fenster und Türen geöffnet hätte. Den Verfolgern oder den Verfolgten? Hätte ich das Radio lauter oder leiser gedreht in jener Nacht, als die Scheiben klirrten? Ich weiß es nicht und ich werde es nie wissen. Was ich weiß: Ich habe noch immer Fenster und Türen. Die ich öffnen und schließen kann. Ich möchte die richtige Entscheidung treffen.

 

Montag, 10. November 2003

Die Jugend von heute. Glaubt ja an gar nichts mehr. Hat keine Werte mehr. Singt nicht die alten Lieder und kennt nicht die alten Gedichte. Und was noch viel schlimmer ist: Sie interessiert sich noch nicht einmal dafür. Soweit die Klischees der älteren Generation über die jüngere Generation. Von denen einige sogar stimmen.
Die Jugend von heute singt nicht mehr die alten Lieder und kennt nicht mehr die alten Gedichte. Und wenn, dann nur, weil ihr nichts anderes übrig bleibt. Aus freien Stücken sitzt da niemand mehr am Brunnen vor dem Tore oder schleicht zu Dionys, dem Tyrannen.
Für ältere Menschen oft eine Enttäuschung. Und zwar nicht nur, weil die so borniert und kleinkariert wären. Sondern weil die alten Lieder und alten Gedichte ein Teil ihrer Jugend sind. Und weil sie unermüdlich darauf hoffen, dass die jungen Menschen diesen Teil ihres Lebens mit ihnen teilen wollen. Wollen die aber nicht. Zumindest nicht so.
Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und dem Unterton, dass ihre eigenen Lieder und Gedichte nichts wert sind. Dass ihre eigene Kindheit und Jugend, die sie gerade erleben, so etwas wie den Niedergang des Abendlandes darstellen. Weil es in ihren Augen ja nicht so ist. In den Augen der jungen Menschen ist auch ihre Zeit etwas ganz Besonderes. Mit ihren Liedern und ihren Gedichten.
Man kann nicht eine Zeit gegen die andere ausspielen. Nicht ein Leben gegen das andere ausspielen. Gerade dann, wenn Jahrzehnte Altersunterschied dazwischen liegen. Vergleichen, aber nicht verurteilen. Abwägen, aber nicht abstempeln. Und vielleicht dabei entdecken, dass gar nicht alles anders ist, sondern manches sehr ähnlich. Die Streiche in der Schule, die Auseinandersetzungen mit den Eltern, die Träume von der Zukunft. Und wo die Ähnlichkeiten aufhören, da beginnt die Achtung vor dem anderen. Vor dessen Liedern und Gedichten. Ob Zarah Leander oder Eminem.

 

Dienstag, 11. November 2003

Rache hat Konjunktur. Fernsehsendungen, Frauenzeitschriften und Versandhäuser haben längst die Lust an der Rache entdeckt. Zumal Rache oft etwas mit Lust zu tun hat. Nämlich der verschmähten. Wenn in einer Beziehung einer geht, bleibt der andere meist mit enttäuschtem Herzen und gekränktem Ego zurück. Und dem tiefen Bedürfnis, nicht der Verlierer in der Geschichte zu sein. Idealer Nährboden für Rachegelüste.
Wo ein Markt ist, ist auch ein Angebot. Und so gibt es mittlerweile eine breite Palette von Anregungen, wie man Rachedurst in die Tat umsetzen kann. Mit seiner Zahnbürste pfeifend das Klo zu putzen, ist eine nahezu feinsinnige Möglichkeit. Ihn beim Finanzamt zu verpfeifen, freut auf jeden Fall die Steuerfahnder. Und seinen nagelneuen Mercedes für 300 Euro zu verkaufen, kann wirklich weh tun.
»Rache ist süß«, sagt der Volksmund. Ob das stimmt, ist so eine Sache. Denn richtig glücklich sind die Rächer ja dann doch nicht. Aber dass Rache gut tun kann, daran ist wohl schon etwas Wahres. Irgendwie vermittelt eine gelungene Revanche das Gefühl, die Dinge wieder ins Lot gebracht zu haben. So eine Art ausgleichende Gerechtigkeit.
Dennoch wird dies hier alles andere als ein reines Plädoyer für die Rache. Weil eben genau das die Schwierigkeit ist: eine gelungene Revanche. Viel zu oft schießen wir bei unserem Rachedurst weit über das Ziel hinaus. Oder nagen solange an unseren Kränkungen herum, dass die Rache gar keine Genugtuung mehr bringt. Oder wir sinnen auf Rache und können am Ende nicht damit umgehen, wenn sie gelingt.
»Die Rache ist mein, spricht der Herr«. So heißt es in der Bibel. Oder mit anderen Worten: Von der Rache sollten wir Menschen weitestgehend die Finger lassen. Nicht weil Gott so scharf auf Rache ist, sondern weil wir nicht gerade Meisterrächer sind. Deswegen sollten wir das Rächen einem überlassen, der wirklich etwas von Gerechtigkeit versteht. Und da hat Gott schon einen ziemlich guten Ruf.

 

Mittwoch, 12. November 2003

Melanie war immer so ein fröhliches Kind. Daran erinnern sich die Eltern. Und können noch immer nicht verstehen, was ihr fröhliches Kind dazu bewogen hat, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Kein spontaner Schritt, sondern von langer Hand vorbereitet. Und keiner hat etwas gemerkt.
In Deutschland sterben jährlich mehr Menschen durch eigene Hand als durch Verkehrsunfälle, Verbrechen und Drogen zusammen. Gerade unter jungen Menschen sind die Zahlen erschreckend: Täglich versuchen vierzig Kinder und Jugendliche, sich das Leben zu nehmen. Im Durchschnitt dreien gelingt es. Eben auch Melanie.
Deren Eltern sich die größten Vorwürfe machen. Und verzweifelt überlegen, was sie falsch gemacht haben. Welche Signale sie übersehen haben. Ob sie es hätten verhindern können. Den Freundinnen geht es nicht anders. Wobei sich denen gegenüber Melanie von einer anderen Seite gezeigt hat als ihren Eltern.
Die erinnern sich an Gespräche über den Tod. Dass er Freiheit bringt und dass man im Tod fliegen kann. Die erinnern sich an Gespräche über das Leben. Dass es keine Perspektive gibt und jeder Tag dieselbe Quälerei ist. Die haben genickt, weil sie ja ganz ähnlich dachten. Aber diesen letzten Schritt, den hätten sie nicht getan. Und Melanie auch nicht zugetraut. Das dann doch nicht.
Hinterher wurde noch mehr geredet. Und noch viel mehr unter den Teppich gekehrt. Weil man keine traurige Heldin unter den anderen Jugendlichen wollte. Und weil Selbstmord immer noch ein Tabu-Thema ist. Deswegen wurde Melanie betrauert. Und abgehakt. Als ein Einzelfall. Der sie nicht ist.
In Suizidforen im Internet tummeln sich gerade Jugendliche auf der Suche nach einem Sinn oder nach Gleichgesinnten in der Sinnlosigkeit. Und nicht wenige reden davon, irgendwann »Schluss zu machen«. Bei manchen mag es Geschwätz sein, bei anderen nicht. Hilferufe sind es allemal. Und indem man das Thema totschweigt, erstickt man die eben auch.

 

Donnerstag, 13. November 2003

In Englands Kirchen gab es vor Jahrhunderten eine schöne Sitte: Wenn den Gottesdienstbesuchern und -besucherinnen die Predigt zu lang wurde, dann zogen sie einfach einen Vorhang zu, der an ihren Plätzen befestigt war. Wenn dann nach und nach überall der Vorhang fiel, dann wusste der Mann auf der Kanzel, dass er doch so langsam zu Ende kommen sollte. So weit, so gut.
Von dem englischen Dichter Lord Byron wird nun erzählt, dass er zu Besuch bei Freunden war, die ihn mit zur Kirche nahmen. Dort setzte er sich in eine Bank. Und zog den Vorhang zu. Allerdings bevor der Pfarrer auf der Kanzel auch nur Atem geholt hatte. Und der hatte dann auch gleich kapiert: Da kann ich doch sagen, was ich will - den feinen Lord Byron wird es sowieso nicht interessieren.
Die Idee mit dem Vorhang gefällt mir an und für sich ganz gut. Wer hat schon Interesse daran, seine Zuhörer und Zuhörerinnen zu langweilen. Das Verhalten von Lord Byron finde ich schlicht unhöflich. Dem anderen gleich vor den Latz knallen, dass man von ihm nichts erwartet. Dass von dort nichts Gutes oder Interessantes kommen kann. Dass der sich jeden Atem sparen kann. Und dann genussvoll zusehen, wie der andere sich vor Verlegenheit windet, während ich meine Überlegenheit souverän ausgespielt habe.
Wenn so etwas passiert, dann ärgert mich das. Und zwar nicht nur in der Kirche. Ich habe tiefes Verständnis dafür, dass es Predigten, Reden, Vorträge, Grußworte und Ansprachen gibt, die gerade mal völlig an mir vorübergehen. Aber wie kann ich das wissen, wenn ich nicht wenigstens am Anfang meine Ohren aufmache und auf Empfang stelle? Wenn ich nicht im Mindesten offen dafür bin, dass es vielleicht auch anders sein könnte?
Denn wer weiß: Vielleicht ist unter all den Worten, die meinen Tag begleiten, ja wider Erwarten doch eine Perle der Weisheit, die mich ein Stück weiterbringt. Dann wäre es doch schade gewesen, wenn der Vorhang zu früh fällt und ich einfach weiter zappe. Und wenn es denn partout nicht sein soll, dann habe ich durch meine Aufmerksamkeit doch wenigstens meinem Gegenüber seine Würde gelassen.

 

Freitag, 14. November 2003

Wollen Sie Ihre neuen türkischen Nachbarn beeindrucken? Oder ist Ihr Kollege Hindu und hat Sie zum Essen eingeladen? Oder ist Ihnen heute nach einer Prise Buddhismus? Wenn Sie solche oder ähnliche Fragen mit einem klaren "Ja" beantworten können, dann sind Sie der ideale Abnehmer für ein neues Produkt des italienischen Softwareherstellers HolySoft.
Das Ganze heißt Plug and Pray. Und wird von den Machern angepriesen als die Antwort auf unsere Zeit. In der heilige Kriege und schnelle Machtwechsel an der Tagesordnung sind. Und damit auch wechselnde Religionen. Deshalb kann ich mir mit dieser Software die gerade passende aussuchen und via PC zu ihr wechseln. Völlig unkompliziert und unbürokratisch. Damit stehe ich dann automatisch immer auf der richtigen religiösen Seite.
Klingt bestechend, ist aber wohl doch nur eine wirklich gute Internet-Satire auf unsere Zeit. Die wie viele Satiren ein Körnchen Wahrheit enthält. In einer immer mobiler werdenden Welt erleben viele Menschen, dass nichts mehr für die Ewigkeit ist. Weder Wohnsitz, noch Arbeitsplatz, noch Partner. Lebenslange Bindung an eine Religion wirkt da schon fast antiquiert. Zumal andere Religionen nicht mehr ganz woanders sind, sondern ganz in meiner Nähe. Warum sich also festlegen?
Vielleicht genau deswegen: weil kaum noch etwas für die Ewigkeit ist. Was den meisten Menschen nicht nur Freude macht. Weil da schon noch so eine Sehnsucht nach etwas ist, das trägt und hält. Religion will das. Religion will Menschen eine Heimat geben, eine innere Heimat. Etwas, worin Menschen verwurzelt sind mit ihrer Seele, wenn schon ihr Körper und ihr Geist ständig woanders sein müssen.
Ich jedenfalls bin ganz froh um meine Wurzeln, um meine religiöse Heimat. Und im Übrigen noch längst nicht fertig, die zu erkunden. Und bevor ich mich aufmache zu neuen und fremden religiösen Ufern, lohnt ja vielleicht erst einmal ein längerer Blick auf die alten und einigermaßen vertrauten Ufer. Vielleicht sind die besser als ihr Ruf. Und geben mir eine Heimat, die ich woanders eben nicht so schnell haben werde. Und darüber kann ich ja dann ein angeregtes Gespräch mit meinem türkischen Nachbarn führen. Ohne Plug and Pray.

 

Samstag, 15. November 2003

Claudia Anthony ist Journalistin. Ihr Heimatland ist Sierra Leone. Wo sie sich allerdings nicht aufhält. Mittlerweile lebt sie im Exil. Weil sie ansonsten vielleicht gar nicht mehr am Leben wäre.
In Sierra Leone bricht im Jahr 1991 ein Bürgerkrieg aus, der erst im Jahr 2002 offiziell beendet wird. In diesen mehr als zehn Jahren tobt ein blutiger Kampf um Macht und Diamanten, der unter der Zivilbevölkerung Tausende von Menschen das Leben oder die Gesundheit kostet.
Aus diesem Grund verlassen Millionen von Einwohnern des westafrikanischen Landes ihre Heimat. Claudia Anthony zunächst nicht. Sie will nicht hinnehmen, was in ihrem Land geschieht. Deswegen beginnt sie 1995 in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone, ihre Arbeit als Journalistin. Sie gründet Zeitungen und arbeitet als Reporterin für BBC Network Africa.
Ihre kritischen Berichte und Reportagen ziehen bald Repressalien nach sich. Nicht nur für sie, sondern auch für ihre ganze Familie. 1999 wird ihr Redaktionsgebäude niedergebrannt und ihr Vater so schwer verstümmelt, dass er an den Verletzungen stirbt. Claudia Anthony macht dennoch oder gerade deswegen weiter.
Im Frühjahr 2000 verlässt sie schließlich Sierra Leone. Und hofft aus der Ferne weiter darauf, dass die Macht des Wortes etwas ausrichten kann gegen die Macht von Gewehren. Deswegen spricht und schreibt sie unermüdlich über ihr Land. Um ihren Teil beizutragen, damit in ihrer Heimat endlich politische Stabilität einkehrt.
Claudia Anthony ist eine von vielen Autoren und Autorinnen in der Welt, die wegen ihrer Meinung verfolgt werden. Männer und Frauen, die sich bemühen, mit ihren Worten etwas an den Verhältnissen zu ändern. Und die gleichzeitig zu Opfern der Verhältnisse werden. Die sich nach Kräften Gehör verschaffen. Und dennoch darauf angewiesen sind, dass sie auch von uns gehört werden. Für sie alle hat der internationale Schriftstellerverband PEN einen Gedenktag eingerichtet. Der ist heute.