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GEDANKEN
vom 27.07.-02.08.2003
ausgewählt von
Dr. Peter Kottlorz, Rottenburg,
Katholische Kirche
Sonntag, 27. Juli 2003
Heilungsgeschichten: Der Taubstumme
Ein Kennzeichen der ersten Christen war dass sie heilen konnten. Ihre
Heilkräfte waren einer der Gründe dafür dass sie sich als neue Religion
so schnell ausgebreitet haben.
So was sprach sich rum. Die Menschen kamen zu Jesus und später zu seinen
Jüngern um von Ihren Leiden befreit zu werden. Zum Beispiel gehörlose
Menschen. In der Bibel kann man nachlesen wie Jesus einen Gehörlosen
geheilt hat. Dabei ist es wichtig auf scheinbare Nebensächlichkeiten zu
achten: Wenn Jesus jemanden geheilt hat, nahm er ihn meistens weg von der
Menge. Das heißt er ging ganz persönlich auf ihn, ganz allein auf diesen
Menschen ein. Damit trennte er ihn von Leuten, die ablenken. Die für das
stehen was eben so gilt, was man so glaubt, was man so tut. Bevor er den
Gehörlosen heilte, schaute er zum Himmel auf und seufzte, er versetzte er
sich in einen anderen Zustand, vielleicht in eine Art Trance. Dann berührte
er den Gehörlosen. Jesus legte seine Finger in die Ohren des Gehörlosen
und berührte die Zunge des Mannes mit seinem Speichel. Ein absolut
dichter persönlicher Kontakt, eine unerhörte körperliche Nähe, wenn
man bedenkt, dass Kranke im damaligen Israel als asozial, als von Gott
gestraft gegolten haben. Zu diesem Menschen sagte er: "Öffne
dich." Egal ob man diese Heilungsgeschichte nun im übertragenen Sinn
verstehen will, also dass ein Mensch geöffnet wurde, der verschlossen,
verstockt oder taub für die Stimme des Herzens war. Oder ob man es wörtlich
glauben will, dass Jesus ganz klar auch körperliche Leiden geheilt hat.
Wichtig ist immer die Beziehung zwischen dem der geheilt werden möchte
und dem, der heilen soll: Auf der einen Seite der Wille sich zu öffnen,
offen zu sein für das ganz Andere, das ganz Unerwartete. Auf der anderen
Seite eine Berührung, die Außen und Innen zusammen bringt, Leib und
Seele verbindet. Und den Himmel öffnet.
Montag, 28. Juli 2003
Autobahn
Seit 12 Jahren fahre ich täglich hundertzwanzig Kilometer Autobahn.
Von meinem Wohnort zu meinem Arbeitsplatz und zurück. Und es gibt
nichts, was es nicht gibt auf der Autobahn. Beim Fahren, wohlgemerkt.
Rasieren am Steuer, Frühstück bei der Fahrt, Zeitung lesen im Stau und
auch danach oder Liebesspiele bei Tempo 160 auf der Überholspur. Echt,
alles schon da gewesen. Weniger schön der alltägliche Krieg. Kotflügel
am Heck - mit Lichthupe, Stinkefinger und fahrlässigem Schneiden, das
an versuchte Körperverletzung grenzt. Am schlimmsten ist es bei
Vollmond oder vor einem Gewitter, da wird die Autobahn zum Wespennest.
Ganz still, unheimlich still wird die Autobahn im Stau hinter einem tödlichen
Unfall. Wenn zuerst der Rettungshubschrauber kommt und dann der
Leichenwagen. Und du mittendrin, kannst nicht vorwärts und nicht zurück.
Jäh gestoppt in deinem alltäglichen Verkehrsfluss. Auf einmal hörst
du die Vögel zwitschern auf der Autobahn, und den Wind. Sprichst
vielleicht mit dem Mann vor dir oder der Frau hinter dir. Und siehst,
wenn der Verkehr wieder fließt, den Rentner der auf der Überholspur
vor dir hinschleicht, vielleicht als deinen Schutzengel.
Dienstag, 29. Juli 2003
Junkies im Hof - oder das Richtige im Falschen
Gedanken. Gedanken, die ich mir gemacht habe während sich zwei Fixer
Ihren Schuss gesetzt haben. Mein Büro ist in der Stuttgarter
Innenstadt. Gegen Abend will ich in mein Auto steigen. Es steht in einem
Innenhof und ist so geparkt, dass zwischen ihm und einer Häuserwand ein
toter Winkel entsteht, der von der Strasse nicht einsehbar ist. Dort
sitzen ein Mann und eine Frau am Boden. Er sieht aus wie Jesus auf
diesen Kitschbildern: Lange braune Haare und Blick auf Unendlich, sie
wie ein magersüchtige Punkerin. In meiner ersten Überraschung stell
ich nur blöde Fragen wie "sind eure Spritzen auch sauber" –
sie werden’ s mir wohl erzählen wenn nicht. "Willst du uns
filzen ?", fragt mich der Mann. Genau so unsinnig diese Frage. Seh’
ich denn aus wie ein Polizist? Viel mehr als unsere Worte sprechen die
Augen dieser beiden Menschen. Ich meine zu erkennen, dass sie sagen –
"lass uns das bisschen Geborgenheit jetzt hier in dieser geschützten
Ecke. Setz’ uns nicht dem Blick der Strasse aus, schick’ uns nicht
weg dadurch dass du weg fährst". "Wie lange braucht ihr noch
?", frag ich sie. "Nur eine Minute", sagt der Mann.
"Okay", sag ich", "lasst euch Zeit", steige ins
Auto und warte.
Die Minute, die sicher keine Minute war, kommt mir vor wie eine Stunde.
In der mir einiges durch den Kopf geht. Was, wenn sich jetzt einer den
"goldenen Schuss" setzt?
Tu ich jetzt eigentlich was Illegales? Was wenn die Polizei kommt? In
welchem Universum leb ich eigentlich und in welchem leben sie? Die Frau
holt mich aus meinen Gedanken als sie ihre Sachen zusammensammelt und
der Mann signalisiert mit erhobenem Daumen, dass sie fertig sind. Die
Frau lächelt mich an und sagt danke. Selten hab ich so tiefe
Dankbarkeit in den Augen eines Menschen gesehen. Als sie aufgestanden
sind, sag ich tschüß und fahre los. Mit dem Gefühl, dass ich das
Richtige im absolut Falschen getan habe.
Mittwoch, 30. Juli 2003
Gute Ehen - aber wie?
Ein Drittel aller Ehen werden geschieden. Das ist bekannt. Fast schon
wie ein Naturgesetz. Aber die 2/3, bei denen es noch, noch immer oder
fast immer gut klappt, über die redet kaum jemand. Warum? Natürlich
weil sich schlechte Nachrichten eben besser verkaufen als gute,
vielleicht auch weil der Alltag das sogenannte Normale irgendwie
langweilig erscheint. Aber dass es in einer Partnerschaft mehr als ein
paar Jahre schön bleibt, das ist gar nicht langweilig, das ist so
interessant, dass es immer wieder Untersuchungen gibt, die vom
"Geheimnis" einer guten Partnerschaft reden. Ein
Psychologenteam hat vor kurzem mal wieder versucht dieses Geheimnis zu lüften.
Die Psychologen haben rund 700 Paare mit einer durchschnittlichen
Ehedauer von 27 Jahren danach gefragt, was ihre Ehe zusammenhält. Die
Antwort der Langzeitverheirateten ergab eine Hitliste von
Verhaltensweisen, die zu einer stabilen Ehe führen können. Diese
Hitliste besteht aus 12 Plätzen und sieht so aus:
Platz 12 Zärtlichkeit und eine zufriedenstellende sexuelle Beziehung.
Platz 11 die gleiche Wellenlänge. Platz 10 materielle Dinge gemeinsam
regeln, Platz 9 Treue, 8 einander die Freiräume bewahren, 7 die
gemeinsame lebenslange Verantwortung für Kinder und Enkel, 6
miteinander durch dick und dünn gehen, 5 gemeinsame Interesse, Hobbys
und Freunde, 4 gut miteinander reden aber auch streiten können, 3 Liebe
und Zuneigung, 2 Vertrauen, Offenheit, Ehrlichkeit. And the winner is,
Platz 1 in der Hitliste stabiler Ehen heißt: Den anderen so nehmen wie
er ist. Klingt leicht und logisch – in der Theorie! Aber die Praxis!
ist Arbeit, Glück und viel guter Wille.
Donnerstag, 31. Juli 2003
Kaffee und Kokain
Sie halten gerade eine Tasse Kaffee in der Hand? Vielleicht einen
Kaffee, der besonders gut und besonders preiswert ist? Dann haben Sie
vielleicht dazu beigetragen, dass in Deutschland immer mehr gekokst
wird. Wie bitte? Was soll denn Kokain mit Kaffee zu tun haben? Mehr als
man denkt. Einer der Gründe für diesen Zusammenhang ist, dass Vietnam
in den Kaffeehandel eingestiegen ist. Vor ein paar Jahren noch völlig
unbedeutend, ist Vietnam zum zweitgrößten Kaffeeexporteur
aufgestiegen. Seither wird weltweit mehr Kaffee produziert als
verbraucht. Die Lager sind bis übers Dach gefüllt, die Preise im
Keller. Den Kaffeekonzernen bringen die niedrigen Preise explodierende
Gewinne. Die Kaffeebauern treibt es in die Armut, weil sie bis zu 70 %
weniger für die Kaffeebohnen bekommen als noch vor fünf Jahren.
Deshalb geben viele von ihnen den Kaffeeanbau auf und versuchen in den
Großstädten Arbeit zu finden und landen dort oft in den Slums. Oder
sie pflanzen - wie in Kolumbien - zunehmend Schlafmohn und Kokasträucher
zwischen die Kaffeestauden. Die Vereinten Nationen schätzen, dass der
Anbau von Kokain allein im vergangenen Jahr um 60 % gestiegen ist So
wundert es nicht, dass wie in der Zeitung zu lesen war, auf immer mehr
deutschen Geldscheinen, Spuren von Kokain zu finden sein sollen. Und da
schließt sich der Kreis: Die billige Tasse Kaffe in der Hand führt zu
immer mehr Koks in der Nase.
Freitag, 1. August 2003
Intensivstation
Intensivstation. Ein Freund von mir liegt auf der Intensivstation.
Das Team der Ärzte und Pfleger kümmert sich intensiv um ihn. Tag und
Nacht. Ruhig, professionell, freundlich. Nur an den Rändern unter den
Augen von Manchen sieht man wie gestresst sie sind. Intensiv auch der
Einsatz der Technik. Beatmungsschlauch, EKG, Pulsoxymeter, Monitor,
Thorax-Drainage, Urinkatheter, Venenkatheter, Magensonde, Absaugapparat.
Ein Gewirr von Kurven, Schläuchen und Leuchtziffern. Kein schöner
Anblick, nicht nur wegen der vielen Technik. Aber ohne sie wäre mein
Freund wahrscheinlich schon tot. Intensiv auch die Gerüche - nach
Desinfektionsmittel und Blut. Es ist ein Ort der Lebensverdichtung so
eine Intensivstation. Das Leben auf’ s Heftigste: Der Autounfall neben
der Hirnblutung, der junge Mensch neben dem alten. Schicksale am Bett.
Der Vater bei seinem Sohn, die Tochter bei der hochbetagten Mutter und
die Frau am Bett eines Mannes... Sie schaut aus dem Fenster mit einem
Blick, der mich mehr fertig macht als die ganze Notfallatmosphäre der
Intensivstation. Im Warteraum auf dem Flur ist ein Foto, an dem mein
Blick jedes Mal hängen bleibt: Der Salto eines Trapezkünstlers in
Mehrfachaufnahme. So oft aufgenommen bis eine Umdrehung abgedreht ist.
Mal auf dem Kopf stehend, mal in Seitenlage, aber alles frei schwebend,
in einer Körperhaltung wie ein Embryo. Neben, über und unter ihm auf
dunklem Blau die Lichter der Zirkuskuppel, leuchtend wie Sterne. Und
darin schwebt er, losgelöst, im Niemandsland zwischen Himmel und Erde,
zwischen Leben und Tod. Bis er wieder Halt findet. An den Händen der
Menschen oder in einem großen weichen Netz.
Samstag, 2. August 2003
Glücklichsein
"Glück ist kein Ziel, Glück ist ein Zustand!" Wow, klingt
super dieser Satz. Und was bitte könnte er heißen? Zum Beispiel dass
ich nicht erst dann glücklich bin wenn ich dieses oder jenes Ziel
erreicht habe. Wenn ich ein Haus habe, wenn ich im Urlaub bin, wenn ich
im Lotto gewonnen habe? A propos Lottogewinn, abgesehen von der Tatsache
dass statistisch gesehen die Chance größer ist vom Blitz erschlagen zu
werden, soll ein Lottogewinn nicht wirklich glücklicher machen. Echt
kein Neiderspruch! Es soll tatsächlich eine Studie geben, die den Glückszustand
von Lottogewinnern untersucht hat. Das Ergebnis: Leute, die schon vor
dem Lottogewinn glücklich waren, sind es auch ein Jahr danach. Logo.
Aber die, die vor dem Gewinn nicht glücklich waren, sind es ein Jahr
nach dem Lottogewinn auch nicht mehr. Und was lehrt uns das? Glück ist
ein innerer Zustand und kein äußeres Ziel. Und wie erreiche ich diesen
Zustand? Oh mein Gott, da gibt es ganze Bibliotheken von philosophischen
Abhandlungen und Lebensberatungsschwarten. Trotzdem will ich einen Weg
zum Glücklichsein doch erwähnen, weil er so nah am Menschen ist und
auch relativ leicht zu gehen ist: Man soll die Stärken und Begabungen,
die jeder hat, so oft wie möglich praktizieren. Also wer gut kochen
kann, soll möglichst oft kochen. Wer gut singen kann, soll möglichst
viel singen und wer gern Sport macht soll eben so oft wie möglich Sport
machen. Das allein macht natürlich noch kein glückliches Leben, aber
man bekommt eine Ahnung davon. Und für eine gewisse Zeit kommt man
vielleicht ins Lot. In den "Ki", den "flow" oder wie
immer man den Zustand auch nennen mag: wenn man sich selbst vergessen
kann, dadurch dass man etwas gut und gerne tut. Und durch das sich
selbst Vergessen ganz selbst sein kann.
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