GEDANKEN vom 20.-26. Juli 2003

 

ausgewählt von Pfarrerin Annette Bassler, Mainz, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 20. Juli 2003

Gesegneter Abschied

Abraham war ein Mann wie ein Baum. Ein Patriarch. Viele Frauen, noch mehr Kinder, eine riesige Sippe. Abraham war wie ein alter Baum. Über 70 war er. Alte Bäume verpflanzt man nicht. Aber eines Nachts hört er es ganz deutlich. "Geh", sagt die Stimme, "geh fort aus deiner Sippe, deinem Dorf. Reiß deine Wurzeln aus. Geh in ein Land das ich dir zeigen werde. Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein."
Gibt es das: eine gesegnete Trennung. Ein segensreicher Abschied? Eine chinesische Weisheit sagt: wenn du eine Form ausgefüllt hast, dann geh. Sonst erstarrst du in dieser Form. Ob es das war, was Abraham getrieben hat? Die Angst davor, im Gewohnten zu erstarren? Vielleicht. Ein bisschen Weggehen kann man ja jetzt ausprobieren. Wenn man Urlaub hat. Mit der Krawatte auch die Rolle ablegen, die man professionell ausfüllt: Lehrerin , Sachbearbeiter, Hausmann, Moderator, Chef. Nicht mehr Moderator, nicht mehr Chef sein, einfach nur Norbert, Michael oder Gerold, irgendein Gerold. Und schauen, wer dann zum Vorschein kommt.
Abraham jedenfalls, Abraham macht das richtig gründlich. Er verlässt nicht nur seine Rolle, er verlässt das, was ihm lieb und vertraut und Heimat war. Nur seine engste Familie kommt mit. Und Handgepäck mit dem Nötigsten. Die Einbauküche und das Teeservice bleiben zurück. »Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein«, sagt zu ihm eine Stimme. Und das ist so ungewöhnlich, dass es von Generation zu Generation weitererzählt und schließlich in ein Buch geschrieben wurde. 
Menschen verlassen Sicherheiten, weil sie daran glauben: dort aus der Zukunft, Da kommt mir was Gutes entgegen. Da ist das Leben. Da ist Zuhause. Da ist eine Geborgenheit, die alles in den Schatten stellt, was bisher Heimat war. Dieses unbeschreibliche Glück: einfach zu sein. Keine rollen, keine Spielchen. Einfach sein. Die Luft einatmen, den Wind auf der Haut spüren, nachts die Sterne betrachten und sagen: Hier bin ich Gott, hier bin ich.

 

Montag, 21. Juli 2003

Schutzengel

Sekunden vorher noch hatte er keine Ahnung, dass er im Einsatz war. Es war kurz nach halb vier, ein Tag wie viele. Locker und entspannt saß er im Fahrerhäuschen seines Lastwagens. Die Landschaft zog an der Autobahn vorbei. Er war voll konzentriert. Denn er war im Einsatz. Und dann kam es. Plötzlich lag ein Kind vor ihm auf der Fahrbahn. Erst 2 ½ Jahre alt. War bei Tempo 110 aus dem Auto gefallen und vor seinen LKW gerollt. Sekundenschnell bremste er, brachte seinen LKW quer vor dem Kind zum Stehen und schützte es so vor den heranbrausenden Autos. So hat das Kind den Sturz überlebt. "Wie durch ein Wunder," meinten sogar die hartgesottensten Journalisten. Und nur durch ihn, einen LKW- Fahrer aus Frankreich. 
Abkommandiert als Schutzengel eines 2 ½ Jahre alten Mädchens aus Rheinland- Pfalz. Jetzt in der Ferienzeit sind auch wieder viele Schutzengel im Einsatz. Denn während der Reisezeit werden sogar die Reserveschutzengel gebraucht. Die meisten kommen allerdings nicht mit Bild und Namen in die Zeitung. Sie tun ihren Dienst unerkannt und manchmal ernten sie sogar nichts als Ärger. Wenn sie z.B. langsam an eine Kreuzung heranfahren, obwohl sie eigentlich Vorfahrt haben, weil gleich irgendein Dubel – nein: ein Schutzbefohlener hinter dem Stopschild hervorschießen wird und sie das irgendwie vorher geahnt haben. Schutzengel sind äußerlich kaum zu erkennen und für ihren Einsatz müssen sie weder klug noch stark oder gar gebildet sein. 
Aber sie können im Bruchteil von Sekunden ihren einmal gefassten Plan ändern und sich ganz anders entscheiden und verhalten. Warum? Sie nennen es: dieses besondere Gefühl im Bauch. Oder: die innere Stimme. Schutzengel nehmen diese Signale ernst, weil sie wissen, nein sie ahnen, dass der Chef der Schutzengeltruppe sie damit zum Einsatz ruft. Und – weil das meistens gut ist fürs Leben. Das eigene wie das der Anderen. Vielleicht kommt Ihnen das mit den seltsamen Signalen bekannt vor. 
Vielleicht gehören Sie längst zum harten Kern der Schutzengeleinsatzgruppe. Und der Chef hat sie heute für einen besonderen Einsatz vorgesehen. Wer weiß.

 

Dienstag, 22. Juli 2003

Gerechte unter den Völkern.

"Wir wollten nur uns selber retten. Deshalb haben wir die jüdische Familie versteckt." Sie klingt fast wie eine Entschuldigung. Seine Dankesrede beim Festakt im Mainzer Rathaus. Seit einem Monat gehören er und seine verstorbene Frau zu den so genannten "Gerechten unter den Völkern". Eine Tafel in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem trägt ab jetzt ihre Namen: Horst und Isolde Symanowski. Aber er bleibt dabei: "Keinen Heldenkult, bitte!" "Wir wollten nur uns selber retten. Deshalb haben wir es getan." Es, das war, eine jüdische Familie bei sich zu verstecken. Mehrere Monate lang in Todesangst leben. Nur ein falscher Laut. Nur eine unbedachte Bemerkung. Und es wäre aus gewesen. Aus mit der jüdischen Familie. Aus mit der Familie Symnowski. 1944 hat man da kurzen Prozess gemacht. 
"Wir mussten es tun. Wie hätten wir sonst wieder in den Spiegel schauen können, danach?" Symanowski redet wie einer, der seinen Bruder gerettet hat. Wenn ich meinen Bruder, den ich liebe, vor dem sicheren Tod retten kann, dann muss ich das tun. Auch wenn das für mich gefährlich ist. Da brauche ich keine Stimme des Gewissens. Und mit Held sein wollen, hat das auch nichts zu tun. Es kommt einfach aus der Liebe heraus. So ist das nun mal mit dem Christsein. 
Wenn ich an den einen Vater im Himmel glaube, dann sind die Anderen nicht nur Andere. Dann sind sie seine Kinder. Wie ich. Sie gehören irgendwie zu mir. Und dann tut es mir weh, wenn einem von ihnen himmelschreiendes Unrecht geschieht. So ist das mit der Liebe. Sie fragt nicht, ob es einem recht ist. Sie legt einem Aufgaben vor die Füße, Menschen und sagt: mach schon. Und man muss es einfach tun. Denn nichts ist schlimmer, als die Liebe zu verraten. Horst Symanowski jedenfalls ist bis heute bewegt von dieser Liebe. Nach einer überstandenen Krankheit hat er letztes Jahr zum zweiten Mal geheiratet. Das war nach seinem 90. Geburtstag.

 

Mittwoch, 23. Juli 2003

Entwicklungspolitik praktisch

Wunderbar, ein Tag schulfrei! Freuten sich meine Söhne. Da können wir ausschlafen und uns dann ganz gemütlich an die Arbeit machen. Der schulfreie Tag, das war die Aktion TagWerk. Alle Schüler in Rheinland-Pfalz sollten einen Tag lang in einem Betrieb, bei Nachbarn oder in der eigenen Familie arbeiten. Ihr Lohn war für Kinder in Ruanda bestimmt. Schüler helfen Schüler. Klasse!
Ich schrieb eine lange Liste, die meine Söhne abarbeiten konnten: Unkraut jäten, Straße kehren, Gerümpel aus Keller schaffen. Für 6 Euro Lohn pro Stunde- für die Kinder in Ruanda. Als die beiden nach einem ausgiebigen Frühstück die Liste sahen, schauten sie erschrocken mich an. 
"Ihr tut das ja nicht für mich", sagte ich. "Ihr tut das für Jungs und Mädchen in Ruanda. Viele sind Kriegswaisen. Sie müssen sich alleine durchschlagen, mit Drecksarbeiten wie Straße kehren und Müll sortieren. Sie müssen von der Straße weg. Jemand muss sich um sie kümmern. Und vor allem: Sie müssen zur Schule gehen.
Aber in Kamonyi z.B. haben die für 200 Schüler nur zwei kleine Schulgebäude. Und 19 Schulbänke. Die Älteren haben Unterricht im Freien. Die Kleinen sitzen drinnen - auf Blechbüchsen oder Kartons. Und von eigenen Heften und Geo-Dreiecken haben die bisher nur geträumt. Ihr könnt mit eurer Arbeit ihren Traum wahr machen." Nach meinem kleinen Vortrag stieg die Laune sichtlich und sie machten sich ans Werk. Fast einen ganzen Tag lang. Als ich am Abend kam, waren die beiden völlig erschöpft. Alles war schwerer und dauerte länger, als sie dachten. Der Rücken tat ihnen weh und sie hatten Blasen an den Händen. "Das ist ja ganz nett mit der Idee", sagten sie. "Denen in Ruanda zu helfen ist schon ok. Aber wir wären heute doch lieber zur Schule gegangen." Ich meine: Besser kann man Entwicklungshilfe kaum lernen.

 

Donnerstag, 24. Juli 2003

Ende einer Illusion

Wie viele Skandale verträgt unsere Demokratie? Nach dem Fall Friedman war die Aufregung groß. Wo bleiben die Werte, wo bleibt die Moral in unserem Land? Wie kann einer, der so brillant die widersprüchliche Politikerreden entlarvt hat, selber so widersprüchlich sein: einerseits als VIP auf dem roten Teppich defilieren, andererseits sich in schmuddeligen Absteigen herumtreiben? 
Doch ehrlich gesagt, ich verstehe die Aufregung nicht ganz. Ist die Enttäuschung über Männer wie Friedmann nicht hausgemacht? Täuschen wir uns nicht ständig selber, wenn wir in den Medien Männer zu Helden und Stars hochstilisieren? 
Mich erinnert das an die Zeit, als 15, 16 Jahre alt war. Ich fiel aus allen Wolken, als ich entdeckte: meine Eltern sind ja gar nicht die, für die ich sie immer gehalten habe. Vater ist gar nicht der starke Beschützer. Der ist ja auch feige. Mutter sagt zwar immer, dass sie versteht, aber hat keine Ahnung. "Die halten ja selber nicht ein, was sie von uns verlangen!" klagen die Jugendlichen irgendwann über ihre Lehrer und Eltern. Zurecht. Natürlich haben sich die nicht verändert. Die waren schon immer so. Aber bis dahin konnten oder wollten die Jungen das nicht sehen. Sie brauchten ihre Helden und ihre Vorbilder. 
Jetzt ist die Enttäuschung groß. Paulus hat das auf den Punkt gebracht. "Da ist nicht ein Gerechter, auch nicht einer. Alle sind wir Sünder. Und bei Gott wirklich nicht so heldenhaft, wie wir uns den Anschein geben. Ich meine, es ist ein reifer Schritt, das so sehen zu können. Genau hinzusehen: ja, Menschen sind nun mal Gemischtwaren. Keiner ist nur gut. Keiner ist nur schlecht. Alle sind sie gut und schlecht zugleich. Hin- und hergerissen manchmal. Und voller Widersprüche. Aber Gott schreibt auch auf krummen Linien grade. So manches vom Sockel gefallene Vorbild hat danach viel segensreicher gewirkt als vorher. Und ich glaube, es stärkt eine Demokratie, wenn wir weniger den Helden als der Aufrichtigkeit hinterherlaufen.

 

Freitag, 25. Juli 2003

Göttliche Versuchsreihe

»Nu erzähl schon, wie war es?« »Keine Ahnung«, sagt er in die Runde der neugierigen Gesichter. Er war die ganze Nacht nicht zum gemeinsamen Zeltplatz zurückgekommen., »Ich weiß nur noch was von einer Hängematte. Es war dunkel, Neumond. Sie heißt Sarah. Und hat eine Zahnspange.« Sarah also, murmeln die anderen Jungs, Sarah klingt nicht nach Urweib. Zahnspange klingt allerdings nach ziemlich jung. Die nächsten Tage waren aufregend. Wer ist Sarah? Taucht sie irgendwann auf? Und blamiert ihn bis auf die Knochen mit ihrer Zahnspange? Dabei wollte er ja nur mal ausprobieren. Im stressarmen Ambiente von Urlaub ausprobieren. Weil man hier nicht so schnell das Gesicht verliert wie zu Hause. Ausprobieren, wer denn so zu einem passt. 
»Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei«. Als Gott sein letztes Schöpfungswerk betrachtet- die Krönung sozusagen, wird ihm klar. Da fehlt noch was. Ein Gegenüber. Ein Du, eines, das zu ihm passt. Gott führt dem Menschen alle seine Kreationen vor, Vierbeiner, Vögel und Fische. Er lässt ihn Flossen schütteln und Felle kraulen.
"Nicht übel", sagt der Mensch, "nicht übel, aber das isses noch nicht. Probier weiter." Und Gott probiert weiter. Gott der Allmächtige. Planeten und Sonnensysteme hat er mit einem Fingerschnipsen eingeschaltet, ganze Ökosysteme hat er in feinster Harmonie zum Laufen gebracht. Doch bei der Frage eines geeigneten Gegenübers muss er passen. Da muss er ausprobieren. Wie die Jugendlichen auf dem Zeltlager. Seltsam. 
Vielleicht hätte Gott das bis zum St. Nimmerleinstag gemacht, wäre er nicht irgendwann auf die geniale Idee mit der Rippe gekommen. Genial ist, dass er den Menschen dabei in einen Tiefschlaf versetzt. Also Schluss mit Flossen schütteln und herummäkeln. Nichts tun, und Gott machen lassen. Und da passiert es. Ein Du entsteht. Eins wie er – und doch ganz anders. Mit "Höckerchen vorne", über die er ins Jubeln gerät. "Die ist endlich Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein." Diese Ausprobiergeschichte ist mir wieder eingefallen, als ich von der Nacht mit Sarah erfuhr, Sarah ist übrigens wieder aufgetaucht. Hat sich für den netten Abend bedankt. Und als sie lächelnd ihre Zahnspange freilegte, dachten alle: Da kann noch was werden. Gott hat die Welt ja auch nicht an einem Tag gemacht.

 

Samstag, 26. Juli 2003

Liebe und Tod

Endlich haben wir einen gemeinsamen freien Tag gefunden. Und nun sitzen wir uns gegenüber in einem Straßencafe. Am Nebentisch sitzt ein überdimensionaler Federhut, unter dem eine dezent geschminkte ältere Dame mit ihrem Tortenstück kämpft. Schmunzelnd beobachtet er die Szene.
Ein guter Freund, ja das ist er für mich geworden in den letzten 15 Jahren. Ich habe ihm viel zu verdanken. 
"Wie schön", sagt er, "dass Du den ganzen Tag Zeit hast, bei deinem vollen Terminkalender." "Ach was, " kontere ich "was sind schon Termine schon angesichts der Ewigkeit." So ein Mist, denke ich, und stochere ärgerlich auf meinem Stück Baumkuchen herum. Ich wollte es doch nicht ansprechen. "Ja, du hast recht," sagt er und lacht. Lacht trotz dieser tödlichen
Krankheit in seinem Bauch. "Was sind schon die ganzen Termine angesichts der Ewigkeit!, sagt er. "Ich hab’ alle meine alten Terminkalender durchgeblättert – und dann weggeworfen. Das brauche ich nicht mehr – für die wenige Zeit, die mir bleibt. Und überhaupt: man braucht im Grunde so wenig." 
"Nein", denke ich, "da bin ich nicht einverstanden. Ich brauche noch eine ganze Menge! Zum Beispiel ihn – bräuchte ich noch." Immer wieder mal dieses Zusammensein, das stille Einverständnis. Dieses Gefühl der Verbundenheit, mit dem wir uns nach Monaten begegnen, als wäre nur ein Tag dazwischen gewesen. Ich bräuchte noch länger diese Freundschaft. Neben uns rücken Stühle zur Seite. Die Dame mit dem überdimensionalen Federhut schwebt zum Ausgang. Amüsiert schaut er ihr nach. 
"Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." So heißt es doch in einem Psalm. Hier, in diesem Straßencafe – verstehe ich zum ersten Mal, warum das eine Bitte an Gott ist. Und nicht eine Weisheit, die man aus Büchern lernen kann.
Das junge Fräulein mit der gestärkten Schürze kommt an den Tisch und kassiert den viel zu teuren Baumkuchen. Wir stehen auf und schlendern weiter.