GEDANKEN vom 06.-12.07.2003

 

ausgewählt von Pfarrerin Dorothee Wüst, Kaiserslautern, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 6. Juli 2003

Ich finde, es wird viel zu wenig gestritten. Klingt vielleicht ein wenig befremdlich. Angesichts all der Konflikte und Krisen in der Welt. Und in Nachbars Wohnzimmer. Wo die Fetzen und die Fäuste fliegen. Und die Frau im Frauenhaus landet.
Aber das meine ich nicht. Ich meine weder kontrollierte noch unkontrollierte Gewalt. Ich meine weder blinden Zorn noch geplante Machtdemonstration. Ich meine gesundes und konstruktives Streiten. Das man auch "Streitkultur" nennt. Davon gibt es zu wenig. Finde ich. Ich erlebe Freundschaften, deren Tragweite gerade mal für den Biergarten reicht. Weil jede Verschiedenheit in der Meinung ja in einer Meinungsverschiedenheit enden kann. Und damit steht die Freundschaft auf dem Spiel. Was für eine Freundschaft soll das sein?
Ich erlebe Beziehungen, in denen zwei Menschen nur noch nebeneinander herlaufen. Bestenfalls darüber diskutieren, wer den Müll runter bringt. Alles andere könnte heißen, die mühsam errichtete Fassade in Frage zu stellen. Was für eine Beziehung soll das sein?
Ich erlebe Menschen am Arbeitsplatz, die vor Magenschmerzen kaum noch den Tag überstehen. Weil jede Meinung, die vom Mainstream abweicht, den Geruch der Teamunfähigkeit nach sich zieht. Dann lieber alles schlucken und bis zum Erbrechen die Klappe halten.
Der Austausch von verschiedenen Meinungen bringt Menschen weiter und bereichert unsere Welt. Die öffentliche und die persönliche. In einem Klima, das verschiedene Meinungen nicht mehr zulässt und Meinungsverschiedenheiten abstraft, geht der Reichtum einer pluralen Gesellschaft baden. Und der Reichtum, den uns Gott mit der Schöpfung Mensch geschenkt hat, gleich mit.
Deswegen finde ich, dass viel zu wenig gestritten wird, viel zu wenig Streitkultur herrscht, viel zu selten Menschen ihre Meinung sagen. Und die Bibel findet das auch. Denn da heißt es im Buch der Sprüche:
»Ein jeder hat zuerst in seiner Sache recht; kommt aber der andere zu Wort, so findet sich's.«
[Sprüche 17, Vers 18]

 

Montag, 7. Juli 2003

Vor vielen Jahren hatte ich einen Deutschlehrer. Seinen Namen habe ich vergessen. Nur dass er wie Frank Zappa aussah und Frank Zappa mochte. Das weiß ich noch. Und dass er ein guter Deutschlehrer war. Das weiß ich auch noch.
Er stand damals wohl ziemlich am Anfang seiner Berufslaufbahn. Hat sich große Mühe gegeben, den staatlich verordneten Lehrplan einzuhalten. Und wir haben uns große Mühe gegeben, Woche für Woche die Geheimnisse von Grammatik und Syntax zu durchdringen. Bis sein Elan unserer Lustlosigkeit einfach nicht mehr standgehalten hat.
»Was würde Euch denn interessieren«, hat er uns gefragt. Und damit den ersten Überraschungseffekt gelandet. Bis dato hatten wir das Gefühl, dass es niemanden wirklich interessiert, was uns interessiert. Deswegen haben wir auch ein Weilchen gebraucht, um uns mit dieser Frage anzufreunden.
Na ja, Bücher, die wir nicht von Amts wegen lesen müssen. Sondern die wir gerne lesen. Über die würden wir gerne reden. Haben wir schließlich gesagt. Da hat er sich seinen Frank-Zappa-Bart gezwirbelt, seine Tasche gepackt und ist gegangen. Und hat sich am nächsten Tag eine Liste geben lassen von den Büchern, über die wir gerne reden würden.
Wir haben darüber geredet. Über jedes einzelne. Von allen Deutschstunden meines Lebens sind mir die noch in Erinnerung. Nicht jede einzelne. Ich will nicht übertreiben. Aber mir ist in Erinnerung, dass meine Meinung wichtig war. Und dass Lesen mehr ist als Pflichtlektüre. Und dass Denken Spaß machen kann.
Lehrpläne sind wichtig, Noten auch. Und ganz ohne wird es nicht gehen. Aber es wird auch nicht ohne Schüler gehen, die Lust am Lernen haben. Und es wird nicht ohne Lehrer gehen, die Phantasie entwickeln, wie sie diese Lust wecken und stärken. Schule kann schließlich erst Wissensdurst befriedigen, wenn Wissensdurst geweckt ist. Möglichst nicht nur bis zum Schulabschluss. Sondern fürs Leben. Denn dafür lernen wir ja. Fürs Leben.

 

Dienstag, 8. Juli 2003

»Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«. Uraltes Sprichwort. Mit einem Körnchen Weisheit. Denn in der Tat lernen Kinder manches besser und leichter als Erwachsene.
Die Frage ist nur, was soll Hänschen lernen, damit ein tüchtiger Hans aus ihm wird? Im Gefolge der Pisa-Studie gibt es so manche Antwort. Die meisten laufen darauf hinaus, dass Hänschen eine Menge Dinge lernen soll, die es später einmal für die Gesellschaft möglichst eins zu eins umsetzen kann. So genanntes Verfügungswissen. Das man überprüfen und testen kann.
Daneben gibt es aber auch eine andere Art von Wissen. So genanntes Orientierungswissen. Das sind Erkenntnisse und Fähigkeiten, die Menschen helfen, sich überhaupt erst ein Bild zu machen von dieser Welt, in der sie ihr Wissen einsetzen sollen. Kategorien, nach denen sie Erlebtes einordnen können. Wertmaßstäbe, nach denen sie beurteilen und urteilen können. Handlungsmodelle, an denen sie sich orientieren können. Deswegen Orientierungswissen.
Dieses Wissen kann man schlecht überprüfen und testen. Vielleicht wird es deshalb auch gern ein bisschen stiefmütterlich behandelt, wenn es um die Verbesserung unseres Bildungssystems geht. Aber gerade da haken die Kirchen ein. Denn die wollen genau das in ihrem Religionsunterricht leisten. Orientierungswissen vermitteln.
Kindern helfen, sich in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt zurechtzufinden. Sich selbst in dieser Welt verorten zu können. Die Zusammenhänge hinter den Dingen zu erkennen. Und immer ein bisschen weiter zu fragen als nur nach der eigenen Nasenspitze oder der letzten Mode. Das alles sind Ziele, die im Religionsunterricht eine Rolle spielen.
Eins zu eins umsetzen kann man das nicht. Und dennoch gilt auch da: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Und lauter Hansels, die als Erwachsene blind mit Reagenzgläsern hantieren, ohne sich zu fragen, was sie da tun und warum sie das tun und für wen sie das tun - die mag ich mir für unsere Gesellschaft nun auch nicht recht vorstellen.

 

Mittwoch, 9. Juli 2003

aus aktuellem Anlass geändert!

Siamesische Zwillinge

Die "Operation Hoffnung" ist gescheitert. Die beiden Schwestern Laleh und Ladan Bijani haben nicht überlebt. Bewegende Szenen im Raffles-Hospital in Singapur. Trauer im ganze iranischen Volk. Und ein bisschen auch bei mir. Ich hätte es ihnen gegönnt, den beiden Schwestern. Dass ihr Lebenstraum sich erfüllt. Dass sie "das neue, wundervolle Leben als zwei eigenständige Persönlichkeiten beginnen können". Wie sie selbst in ihrem offenen Brief geschrieben haben.
Laleh und Ladan haben mich in diesen Tagen teilhaben lassen an einem Leben, das keine Privatsphäre kennt. Auf der Toilette oder auf der Schulbank, im freundschaftlichen Gespräch oder im finsteren Gedanken. Nie alleine sein. Nie ohne den anderen sein. Nie sich zurückziehen dürfen. Das allein finde ich schon unerträglich genug.
Noch enger ums Herz wird mir bei der Vorstellung, in allen meinen Entscheidungen abhängig zu sein. Welchen Weg ich gehe, welchen Beruf ich ergreife, an welchen Orten ich mich aufhalte, mit wem ich zu tun habe. Alles Dinge, die ich selbstverständlich allein entscheide und oft auch allein durchziehe. Und wenn ich Fehler mache, dann tue ich auch das allein. Weil ich das so will.
All dies kannten Laleh und Ladan Bijani nicht. Das Geschenk, ein Individuum zu sein. Eigene Wege zu gehen. Zu entscheiden, ob ich mit Menschen zu tun haben will oder ob ich meine Ruhe haben will. Dieses Geschenk ist für mich so selbstverständlich wie das Atmen. Für die beiden Schwestern war es ein Traum. Der sich leider nicht erfüllt hat.
Das Bild der beiden Schwestern wird mich noch eine Weile begleiten. Und das Gefühl dafür, dass das Normale eben doch etwas Besonderes ist. Dass das Selbstverständliche eben doch etwas Bemerkenswertes ist. Nämlich ein eigener und eigenständiger Mensch zu sein.

 

Donnerstag, 10. Juli 2003

»Meine Katze mag ihren Platz auf der Matratze«. Diktat erste Klasse. Zwei Fehler in einem Satz. Leise schüttele ich den Kopf. Kind muss noch viel lernen.
Kind sitzt am Computer. Läuft nicht so, wie es will. Deshalb drückt es einfach den Aus-Knopf. Das mag der Computer nicht. Leise schüttele ich den Kopf. Kind muss noch viel lernen.
Kind versucht, Blumen zu gießen. Mit dem Gartenschlauch. Fenster sind sauber, Blumen sind trocken. Leise schüttele ich den Kopf. Kind muss noch viel lernen.
Kasse im Supermarkt. Frau drängelt sich vor. Schubst Kind. Schubst mich. Kind wundert sich. Lauthals. Wieso darf die das, fragt Kind. Das darf man doch nicht, stellt Kind fest. Kind hat Recht. Frau muss noch viel lernen.
Auf dem Weg nach Hause. Mann mit Hund. Mann zerrt Hund an der Leine. Weil Hund nicht so will wie Mann. Hund jault. Mann schimpft. Und zerrt noch fester. Kind will hin. Kind will den Hund retten. Der arme Hund. Dem tut das doch weh. Mann muss noch viel lernen.
Zu Hause. Kind trödelt. Ich drängle. Essen ist fertig. Komme gleich, sagt Kind. Kind kommt nicht. Ich gehe hin. Kind beobachtet Ameise. Ich hasse Ameisen. Schau mal, wie viel die tragen kann, sagt Kind. Cool, findet Kind. Kind hat Augen für das Besondere. Ich muss noch viel lernen.
Sonntags. Familiengottesdienst. Ein Rollenspiel zu einer biblischen Geschichte. Jesus ruft die Kinder zu sich. Kind spielt mit. Hinterher sagt Kind: »Du sollst ein bisschen werden wie ich. Dann mag Gott dich lieber«. Ziemlich verkürzt, aber nicht daneben. Kind hat etwas gelernt. Und eine Menge Erwachsene müssen noch viel lernen.

 

Freitag, 11. Juli 2003

»Da die Völker nur Lehrer für 600 Mark sich leisten können, bleiben sie so dumm, dass sie sich Kriege für 60 Milliarden leisten müssen.« Dieses Zitat ist so gut, dass ich wünschte, es wäre von mir. In der Tat stammt es von dem deutschen Schriftsteller Christian Morgenstern. Der hat von 1871 bis 1914 gelebt. Mit anderen Worten: Die richtig teuren Kriege hat der gar nicht erst mitbekommen.
Entweder hatte Christian Morgenstern also prophetische Gabe, oder – was wahrscheinlicher ist: An manchen Dingen ändert sich wenig. Zum Beispiel daran, dass Staaten bei der Rüstung klotzen und bei der Bildung kleckern. Lieber einen kleinen Panzer einkaufen, als ein paar Lehrer zusätzlich einstellen und die Klassen kleiner machen und den Unterricht individueller zuschneiden.
»Da die Völker nur Lehrer für 600 Mark sich leisten können, bleiben sie so dumm, dass sie sich Kriege für 60 Milliarden leisten müssen.« An diesem Zitat finde ich noch ein zweites bemerkenswert. Es entlarvt die Dummheit, die hinter Kriegen steht. Eine Dummheit, die sich als Intelligenz tarnt.
Durchaus intelligent scheinende Menschen erklären die Zwangsläufigkeit von Kriegen. Durchaus intelligent scheinende Menschen erklären, dass Kriege dem Wohl der Menschheit dienen. Letztendlich. Letztendlich haben noch selten Menschen einen Krieg bejubelt, weil er ihnen Wohlstand und Sicherheit bringt. Wäre ja auch dumm.
»Da die Völker nur Lehrer für 600 Mark sich leisten können, bleiben sie so dumm, dass sie sich Kriege für 60 Milliarden leisten müssen«. Christian Morgenstern hat Recht. Es ist was faul im Staate XY. Wir brauchen mehr Bildung. Und mehr Bildung braucht mehr Geld. Und wenn Morgenstern Recht hat, geht diese Rechnung auf. Weltweit. Und die Milchmädchenrechnung, die noch immer die Welt beherrscht, geht zum Teufel. Wo sie hingehört.

 

Samstag, 12. Juli 2003

Auch Propheten brauchen manchmal einen Schubs. Wie zum Beispiel der Prophet Jeremia, dessen Geschichte im Alten Testament erzählt wird. Der kommt gerade in die Pubertät und macht den Mädchen schöne Augen, als Gott im erklärt, dass er ganz anderes mit ihm vorhat. Er soll ein Prophet werden. Damit hat Jeremia nicht gerechnet. Will er auch nicht. Prophet ist ein ziemlich aufreibender Job. Viel Ärger und wenig Anerkennung. Wer will das schon?
Jeremia will das nicht. Deswegen weigert er sich. Gott sagt man nicht einfach Nein. Deswegen findet Jeremia gute Argumente. Seine eigene Unfähigkeit zum Beispiel. Ich kann das nicht. Sagt Jeremia. Ich bin zu jung. Sagt Jeremia. Und ganz Unrecht hat er ja nicht. Wer hört schon auf einen, der sich noch nicht einmal rasieren muss?
Gott ist das egal. Gott ist hartnäckig. Jeremia soll Prophet sein. Weil Jeremia das kann. Und zwar jetzt. Kein langsames Hineinwachsen in die Verantwortung. Kein sanftes Hineingleiten in ein Aufgabenfeld. Auftrag und Schluss. Hilfestellung wird es geben. Aber mehr auch nicht. Durchziehen muss er seinen Auftrag schon alleine. Mit allen Vor- und Nachteilen. Jeremia schickt sich. Und macht seinen Job als Prophet. Er macht ihn gut. Mit allen Vor- und Nachteilen. Und wächst an seiner Aufgabe.
Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte? Weil ich sie für zeitgemäß halte. Weil ich Jugendliche erlebe, die sich nichts, aber auch gar nichts zutrauen. Noch nicht einmal eine eigene Meinung. Die nicht an ihrer Aufgabe wachsen, weil sie keine haben. Und weil sie nicht wissen, ob sie jemals eine haben werden. Natürlich will ich niemanden überfordern. Besonders Kinder und Jugendliche nicht. Aber manchmal frage ich mich schon, ob es zwischen "ins kalte Wasser werfen" und "mit Samthandschuhen anfassen" nicht doch noch reichlich andere Lebenslösungen gibt.
Eine Lebenslösung als Prophet muss es nicht gleich sein. Aber Jugendlichen etwas zutrauen, ist der erste Schritt zu eigenen Lebenslösungen.