GEDANKEN vom 29.06.-05.07.2003

 

ausgewählt von Stephan Wahl, Saarbrücken, Katholische Kirche

 

 

Sonntag, 29. Juni 2003

Peter und Paul 

Herzlichen Glückwunsch an alle, die Peter oder Paul heißen, oder Petra oder Paula. Heute haben Sie Namenstag! Die meisten feiern wohl eher Ihren Geburtstag, aber in manchen Gegenden ist der Namenstag noch ein wichtiges Datum. Zum Beispiel in meiner Heimat am Rhein. „Geburtstag hat jede Wutz im Stall“, pflegte meine Oma selig immer zu sagen und feierte eigentlich lieber ihren Namenstag. Wann der ist, das kann man im Namentagskalender finden. Jede und jeder Heilige hat übers Jahr einen eigenen Gedenktag und wer seinen Namen trägt, der feiert auch an diesem Tag. Soweit es einen Heiligen  mit seinem Namen gibt. Einen heiligen Kevin oder eine heilige Vanessa gibt es meines Wissens noch nicht, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Im Notfall hilft ein Zweitname. Heute, an Peter und Paul, werden zwei Stars im Heiligenhimmel gefeiert. Die Säulen der Kirche werden sie genannt, zwei Apostel, die sie geprägt haben. Der eine, Petrus, ein einfacher Fischer, wird von Jesus damals weg von den Netzen gerufen. Ihm vertraut er sein Erbe an, Fels nennt er ihn, Papst nennen wir heute seine Nachfolger. Petrus war alles andere als perfekt und die Aufgabe eigentlich eine Zumutung. Er hätte alles für seinen Meister getan und trotzdem schwankte er bisweilen wie jeder, der versucht ehrlich zu glauben. Dreimal kräht der Hahn, als der große Petrus aus Angst so tut, als hätte er nichts mit dem verurteilten Jesus zu schaffen. Es sind nicht die Perfekten und Abgeklärten, die Gott sucht und sendet. Paulus geht es ebenso. Den Mund voll Sprüche und das Herz voll Hass ist er erst derjenige, der die neuen Christen verfolgt. Ohne Kompromisse. Die Legende erzählt, dass Gott ihn buchstäblich vom hohen Ross wirft, in den Staub. Erst ganz unten  erkennt er, was wahr ist und stellt sein Leben völlig auf den Kopf. Seine Schriften und Briefe lesen wir Christen noch heute. Es sind nicht die Perfekten und Abgeklärten, die Gott sucht und sendet. Es sind Menschen, so wie Menschen sind. Deshalb sind sie mir heilig.

 

Montag, 30. Juli 2003

Mobil 

Gerade als Pfarrer sollte man eigentlich ein netter Mensch sein. Aber mir gelingt das nicht immer. Besonders wenn ich im Großraumwagen der Deutschen Bahn sitze. Nicht, dass ich was gegen Handys hätte, ich habe selber eins und bin auch froh drüber, aber was man unterwegs manchmal mitbekommt, ist gnadenlos. Nicht nur, dass man schon nach einer halben Stunde einen hübschen Querschnitt unterschiedlichster Klingeltöne vorgeführt bekommt, richtig heftig wird es erst, wenn gesprochen wird. Bei manchen lautstarken Geschäftstelefonaten möchte man sich bei den Damen und Herren fast entschuldigen, dass man es gewagt hat, einen Platz in ihrem Büro gebucht zu haben. Manche telefonieren, als gehöre der Wagen ihnen. Verschärft sind auch die, die ihrer Liebsten im Viertelstundentakt mitteilen, wann ihr Zug den Zielbahnhof erreicht. Oder allerliebst sind auch die Hallo-hörst-Du-mich-noch-Dramen in Gegenden mit Tunnel und Funkloch. Nein, ich bin in dem Punkt nicht gelassen. Oft bleibt nur ein Kopfhörer mit Walkman oder Bordradio. Was hilfreich ist, kann auch zur Fessel werden. Wie haben wir nur vor der Handyzeit leben können? „Du, ich muss jetzt aufhören“, sagt jemand ins Handy, „ich treff’ Dich gerade“. Ich erinnere mich, dass wir bei unseren Zeltlagern und Radtouren nur im alleräußersten Notfall nach Hause anrufen durften. Das können Sie heute in Freizeiten vergessen.  Man versichert sich auch durch Anruf und SMS. auch gegen die eigenen Ängste. Das Tempo steigt, und das Vertrauen sinkt. Mobil sein, schnell sein, immer erreichbar. Bis einem irgendwann die Luft ausgeht. Die Dinge besitzen, ohne von ihnen besessen zu werden. Darauf kam es schon immer an. in jedem Jahrhundert, auf unterschiedlichste Weise. Das geht einfacher als man denkt. Es gibt einen kleinen Schalter an den nützlich-nervenden Quälgeistern. Auf ihm steht  „OFF“.

 

Dienstag, 1. Juli 2003

David 

Ich war gerne König David. Elf oder zwölf Jahre war ich, da wurde die Geschichte des großen Königs in unserer Schule aufgeführt. Unsere Mütter nähten Kleider, die Väter bastelten am Bühnenbild, das Holzschwert, geschnitzt von einem Onkel, habe ich immer noch. Wir lernten Texte und kannten die Geschichte des kleinen Hirtenjungen, der zum König wurde, bald aus dem Effeff. Jedenfalls das Wichtigste. Spannend war die Besetzung der Hauptrollen. Mir fiel der Davidpart zu, nicht weil ich mich durch außergewöhnliche schauspielerische Fähigkeiten hervorgetan hätte, sondern weil ich schlicht der Kleinstein der Klasse war, vielleicht sogar eher der Schmächtigste und deshalb dem Lehrer besonders geeignet erschien für dieses Rolle. Die Figur des Goliath, des Philisterriesen, der vom Hirtenjungen David mit einer Schleuder erledigt wird, spielte der Längste und Stärkste in unserer Klasse, einer, der mich genau das oft hatte spüren lassen. Davids Triumph über Goliath war auch der meinige über den starken Alexander. Die Regieanweisung, den Fuß auf den erlegten Goliath zu positionieren, nahm ich sehr wörtlich. Kräftig rammte ich ihm während der Aufführung den Fuß in die Rippen und genoss das Gefühl, dass er sich vor dem versammelten Eltern- und Lehrerpublikum nicht wehren durfte –laut biblischem Drehbuch war er ja mausetot. Natürlich habe ich diesen Sekundentriumph später bitter bereut und mit nicht wenigen blauen Flecken bezahlt. Das heißt, ich weiß gar nicht, ob ich ihn ehrlich bereut habe, der kurze Triumph schmeckte doch süß… Seither ist mir David besonders ans Herz gewachsen. Auch wenn ich jetzt andere Methoden bevorzuge. Die Zugänge zu biblischen Gestalten sind individuell, nicht immer nur akademisch, manchmal auch bizarr biographisch. Es gibt dort genug Figuren, die mir etwas zu sagen haben. Und nicht nur das, was man ganz klassisch von der Bibel erwartet.

 

Mittwoch, 2. Juli 2003

Schwäche 

Mein Bruder Michael war neun Jahre alt, als er in der Schule einen Aufsatz schreiben musste. Es war kurz vor Weihnachten, das Thema:„Was schenke ich meinen Eltern?“ Was ihm für ihm für Vater einfiel weiß ich nicht mehr, aber das Geschenk für Mutter war klar: eine bestimmte Süßigkeit, die ihr gefiel und - das war der Nebeneffekt – auch dem, der sie schenkte. Also schrieb Michael seinen Aufsatz, stockte aber dann beim Namen des Konfekts. Lehrer wissen alles, dachte er, hob die Hand und fragte: „Wie schreibt man Ferrero Küsschen?“ Der für Klein-Michael allmächtige Lehrer schüttelte den Kopf und polterte barsch: „Ach Quatsch, schreib Pralinen.“ Mein heute vierzigjähriger Bruder hat das bis heute nicht vergessen. Heute schmunzelnd, damals verärgert. Warum fällt es so schwer, zuzugeben, wenn man mal etwas nicht weiß, warum fällt es so schwer, Fehler und Niederlagen zuzugeben. Wenn einer meiner Mathelehrer sich mal wieder tüchtig verrechnet hatte, erklärte er ohne mit der Wimper zu zucken, das sei Absicht gewesen, um unsere Aufmerksamkeit zu testen. Ich kenne Leute, die bei Diskussionen eher ganz geschickt Argumente der Gegenseite annehmen und ins Feld führen, als den Satz über die Lippen bekommen „Ich habe mich geirrt, Du hast Recht“. Nur keine Schwäche zeigen,  ist die Devise. Ich habe Respekt vor Menschen, die über ihren Schatten springen können, Fehler machen und zu ihnen stehen. Und denen kein Zacken aus der Krone fällt, wenn andere auch einmal Recht haben. Ich habe Respekt vor Menschen mit Ecken und Kanten. Mit Siegen und Niederlagen. Vor Menschen, die sich nicht wichtiger nehmen als nötig und die die  Größe haben, bisweilen auch über sich selbst zu lachen.

 

Donnerstag, 3. Juli 2003

In sich Ruhen 

Es gibt auch gute Nachrichten, die hauen einen um. Eine selten-schöne: die berühmten sechs Richtigen im Lotto, selbst fünf sind je nach Quote auch ganz schön. Irgendwie wird man es erst gar nicht glauben, da muss sich doch jemand geirrt haben, das kann doch nicht wahr sein. Man muss es ich immer wieder sagen lassen, man wird immer wieder den Schein überprüfen, bis hin zur amtlichen Gewissheit. Andere lassen einen wohl eher Fassung bewahren, aber sind auch „nicht ohne“: Sternstunden wie Führerscheinprüfung, Abitur oder Meisterprüfung Geburt des ersten Kindes, die langersehnte Zusage nach endlosen Bewerbungen. Es passieren halt zwischendurch doch immer wieder Dinge, die wirklich gute Nachrichten sind, die uns das Herz höher schlagen lassen. Aber dann gibt es auch das andere. Die Nachrichten, auf die man so sehr verzichten könnte und die man gerne überhören würde: der Brief mit der Kündigung, die Freundin, die am Telefon sagt, dass jetzt endgültig Schluss sei, der entmutigende Bericht vom Arzt. Oder die Polizeibeamten vor der Tür, die betreten unter sich schauen, weil sie das Schlimmste zu überbringen haben. Nachrichten, die wie der Blitz einschlagen, und man meint: Welt halt still, es kann einfach nicht mehr weitergehen. Alles verliert von einem Moment auf den anderen seinen Sinn. Es gibt diese Momente, die auf einmal alles verändern. Positiv oder negativ. Die Gefahr ist groß, dass man aus der Bahn gerissen wird. Entweder weil man vor lauter Glück den Boden verliert, oder vor lauter Schmerz der Boden unter einem zu brechen beginnt. Was hält mich so oder so? Was bewahrt mich davor, übermütig zu werden und was davor endgültig zu verzweifeln? Rezepte dafür gibt es leider nicht. Aber Hinweise, dass es gelingen kann. Manchmal hört man den Satz: „Der oder die ruht in sich selbst“, - so werden manchmal Menschen bezeichnet, bei denen man merkt, dass sich mit sich selbst klar sind, die das auch ausstrahlen und in deren Nähe man selbst ruhig wird. Es sind meist die, die selbst viel erlebt haben, manchen Sturm überstanden haben, die für sich Werte entdeckt haben, in denen sie sich tief verankert fühlen und die sie vor beidem bewahren: vor Verzweiflung wie vor Übermut. Menschen, die glauben, gehören dazu. 

 

Freitag, 4. Juli 2003

Widerständig 

Ein schlichter Stein und knappe Worte: „Willi Graf ein Kämpfer gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in der studentischen Widerstandsbewegung Weiße Rose hingerichtet am 12.Oktober 1943.“ 1943.In diesem Jahr sind es genau 60 Jahre her, dass Willi Graf und die Freunde aus der Weißen Rose ihr Leben verloren. Die Geschwister Scholl und die anderen am Anfang des Jahres, Willi Graf später, als letzter. Sie hatten den Mut, dem Tyrannen die Stirn zu bieten, brachten Flugblätter unter die Leute um ihnen die Augen zu öffnen, nannten die Verbrechen beim Namen. Ihren Versuch, zum Sturz von Hitler beizutragen, haben sie aber selbst mit dem Leben bezahlt. Ich wüsste nicht, ob ich die Kraft gehabt hätte, ob ich aufgestanden wäre, den Mund aufgemacht hätte, das gelebt, was ich so oft von der Kanzel lese: „ ..wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.“ Das war nicht jeder, das schafft nicht jeder. Ich habe Willi Graf’ s ältere Schwester, noch kennen lernen dürfen, sie hat immer betont, dass sie das nicht gekonnt hätte. Jedenfalls nicht so. Aber sie hat auch immer gerne erzählt, dass ihre Mutter, wenn sie auf die Strasse trat und pflichtgemäß mit Heil Hitler begrüßt wurde, im schönsten Rheinisch - die Graf’ s stammen aus der Nähe von Euskirchen- antwortete:„und Ihnen auch einen schönen juten Tach“ Das waren die kleinen Widerstände im Alltag. Ich habe seine Schwester mal gefragt, was Willi heute tun würde, gegen was er heute opponieren würde, und im Satz gemerkt, wie blödsinnig diese Frage ist… so, als würde man als Berufswiderständler geboren. Die mutigen Demonstranten des 17. Juni 1953, der Arbeiteraufstand gegen das kommunistische Regime 10 Jahre später in Berlin, haben ja auch nicht vorher gewusst, zu welchem Protest sie fähig wären, um sich das Unrecht von der Seele zu schreien. Man weiß nie genau, wann man gefordert wird. „Jeder einzelne trägt die ganz Verantwortung…“, schreibt Willi Graf in einem seiner Briefe. Ich glaube aber auch, dass kein Mensch so was aus eigener Kraft schafft, und Menschen wie Willi Graf oder die Demonstranten vom 17. Juni Zeichen sind, dass Gottes Geist bisweilen dazwischenfunkt und den Herren der Welt die Leviten liest. Und dass er uns das Rückgrat stärkt, und den Mut gibt, den Mund weit aufzumachen, wenn es auf den einzelnen ankommt. „Seid stark und voller Gottvertrauen“ schreibt Willi Graf in seinem Abschiedsbrief an die Familie. 

 

Samstag, 5. Juli 2003

Regenbogen 

Noch immer sind  sie zu sehen. In Italien noch mehr als bei uns. Die bunten Fahnen mit der Aufschrift „PACE“- „Frieden“. Vor und während des Golfkriegs haben sie zu tausenden die Demonstrationen begleitet. Irgendjemand hatte in Italien die Idee, und die war gut und hat sich durchgesetzt. Das Design ist schlicht, aber deutlich. Die Regenbogenfarben und dann in dicken Buchstaben eben Pace - Frieden. Das mit den Regenbogenfarben hat manchen etwas irritiert, sind doch diese Farben weltweit auch ein Symbol für Schwule und Lesben. Sie nutzen den Regenbogen als Bild für Vielfalt, Toleranz und Weite. Und die Bedeutung hat er nicht nur für sie. Die Bibel erzählt mit ihren großartigen Bildern, dass Gott nach der Sintflut mit Noah einen neuen Anfang gemacht hat, mit ihm einen Bund geschlossen hat. Als Zeichen dafür, als Bekräftigung, als ewiges Symbol habe er den großen Bogen geschaffen. Der Regenbogen gilt seitdem als Bild für Gottes Bund. Und zwar mit allen Menschen. Deshalb haben die Friedensfahnen und Friedenskerzen der letzten Monate diese Farben getragen. Es gibt mehr was uns eint, es gibt mehr was uns als Menschen zusammenrücken lässt, - wenn wir denn wollen. Es gibt Sehnsüchte, die sind gleich in allen Religionen und Konfessionen. Wir sind Menschen unter der einen Sonne. Mit Sehnsucht nach dem Paradies, wie das auch aussehen mag, mit Sehnsucht nach dem Ende der Ausgrenzungen, nach aufrechtem Gang, nach Frieden nach Gerechtigkeit: keine Moralkeulen mehr über Nichtkonforme. Die Wunden schlagen wir uns selber, an Gott liegt es nicht. Er hält uns besser aus, als wir uns untereinander. Der Regenbogen erinnert daran.