GEDANKEN vom 22.-28. Juni 2003

 

ausgewählt von Pfarrerin Annette Bassler, Mainz, Evangelische Kirche

 

 

Sonntag, 22. Juni 2003

"Ich armer sündiger Mensch bekenne vor dir meine Schuld." Die Worte hallen durch die volle Kirche. Es ist Sonntagsgottesdienst. Der Pfarrer steht vor dem Altar, mit dem Rücken zur Gemeinde. "Ich armer sündiger Mensch bekenne vor dir Gott meine Schuld." sagt er. Und die Gemeinde wiederholt laut, was er gesagt hat. Als ich das so zum ersten Mal hörte, bin ich erschrocken. Schuld bekennen. In aller Öffentlichkeit. Ob ich das auch könnte? Jedenfalls kenne ich das so nicht. Öffentliche Schuldbekenntnisse. Was ich in der Zeitung lese und in den Nachrichten sehe, sind nicht Bekenntnisse, sondern Anklagen. Anklagen machen Schlagzeilen. Ständig werden mir neue Erkenntnisse und Verdachtsmomente präsentiert. Wird öffentlich darüber diskutiert: hat er oder hat er nicht? der Jürgen Möllemann oder der Michel Friedmann. Aber muss ich das wirklich wissen? Wem hilft es, wenn ich weiß, was da angeblich ermittelt wird? Muss ich wissen, dass der Angeklagte einen Nervenzusammenbruch hatte? Sicher, Schuld muss gefunden, Verantwortung muss übernommen werden. Aber dafür sind doch eigentlich Gerichte zuständig. Wenn sich die Medien darum kümmern- angeblich wegen der Informationspflicht, dann wird daraus etwas ganz Anderes. Dann wird ein Mensch öffentlich an den Pranger gestellt. Der Pranger gehört aber nicht vor das Urteil sondern danach. Er ist eine Strafe. Er ist so viel wie ein soziales Todesurteil. Denn am Pranger ist es aus mit der Bürgerehre, ist es aus mit der Würde. Und das ist manchmal schlimmer als jedes Gerichtsurteil. Wen wundert es, wenn die am Pranger kein Bekenntnis abgeben. Mich wundert es nicht. "Ich armer sündiger Mensch bekenne vor dir meine Schuld." Der Pfarrer sagt das jeden Sonntag. Und wenn ich es nachspreche, denke ich mir meinen Teil. Was ich wieder alles verbockt habe. Das kratzt schon am Lack. Aber meine Würde nimmt es mir nicht. Hier jedenfalls nicht. Nicht vor Gott. Da bin ich geschützt. Mir macht das Mut. Mut, meine Verantwortung zu übernehmen.

 

Montag, 23. Juni 2003

Meine Kinder konnten gar nicht genug kriegen von diesem Spiel. Sie oben auf dem Klettergerüst – ich unten. "Mama, ich spring jetzt!" – "Ja, gut, ich bin da." "Du, ich spring wirklich! " - "Alles klar, ich fang dich auf." "Also dann mach ich’s jetzt ." – "Schatz, wenn du Angst hast, lass es sein. Du musst nicht" – "Doch, doch, ich will!" Und dann ein Sprung, ein Schrei und in meinen Armen ein Juchzen. "Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft! Ich bin gesprungen!" "Ja Schatz, du hast es geschafft. Du bist gesprungen. Du bist mutig." Angst haben und trotzdem springen. Ich glaube, das bleibt eine lebenslange Übung. Reinspringen ins Leben. Auch wenn die Knie schlottern und das verdammt tief runtergeht. Was ist, wenn ich die Prüfung vermassle? Soll ich mich wirklich trennen? Sicher, es geht dreht sich immer im Kreis, der ganze Mist. Aber ist es hinterher wirklich besser? Soll ich wirklich springen? Ich hab Angst. Angst ist wie ein Nadelöhr. Wenn man da reinschaut, in den kleinen Spalt, schimmert etwas von der großen Freiheit durch. Und ich ahne: ja, das ist gut, das ist mein Weg.. "Kirche der Angst", so hat der Regisseur Christof Schlingensief sein neues Projekt auf der Biennale genannt. Eine virtuelle Kirche im Internet ist das. Eine Kirche, in der sich die Leute wieder zu ihrer Angst bekennen. Dazu stehen, dass sie Angst haben vor allem Möglichen und am meisten vor wichtigen Entscheidungen. Ich glaube, das ist ein guter Anfang, eine "Kirche der Angst". In meiner Kirche aber wird nicht nur darüber geredet, wie man zur Angst stehen kann. Da geht es auch darum, wie man da durchkommt, durch dieses Nadelöhr. Und da gibt es nur einen Weg, hat Jesus gesagt. Ihr müsst werden wie die Kinder. Wie die Kinder oben auf dem Klettergerüst. Mit ihren schlotternden Knien. Die nach unten rufen "Achtung, ich spring jetzt". Und drauf vertrauen, dass da unten Arme sind, die sie auffangen. Irgendwie, irgendwann. Sind ja nicht die ersten, die gesprungen sind. Viele haben es schon gemacht. Habens überlebt. Kann man nachlesen in der Bibel. "Gott wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, steht da, und der dich behütet, schläft nicht!"

 

Dienstag, 24. Juni 2003

Sonne satt auf der Haut. Die Augen schließen und spüren, wie sich unter der Wärme langsam die Härchen hochstellen. Ich liebe dieses Gefühl im Sommer. Jetzt noch mal auftanken. Sonne auftanken. Und Licht auftanken. Bevor die Tage kürzer und die Sonne schwächer wird. Wunderbare Feste haben unsre heidnischen Vorfahren sich erdacht. Sonnwendfeste mit Lagerfeuer. Über die sind die Liebespaare gesprungen. Hand in Hand. Und beim Springen haben sie erlebt: ja unsere Liebe wird feuerfest sein. Irgendwann wurden die heidnischen Feste weniger und ein Name tauchte auf. Johannes. Johannes der Täufer. Heute, am 24: Juni- also genau 6 Monate vor Jesus ist er geboren. Deshalb ist heute Johannistag. Bescheiden war er, der Johannes, ein Asket. War mit wenig zufrieden. Wüste als Heimat, Wüstenheuschrecken und wilder Honig als Nahrung. Johannes muss ein großes inneres Feuer gehabt haben. Scharfsinnig legte er den Finger auf die Wunden seiner Zeit. Leidenschaftlich predigte er den Leuten, dass sie ihr Leben ändern müssen, mit ihrem Gewissen ins Reine kommen müssen. Jesus war von ihm fasziniert, hat sich taufen lassen von ihm, Johannes dem Täufer. Jesus hat weitergeführt, was er, Johannes angefangen hat. Aber anders. Den Leuten ins Gewissen reden ist gut. Sie dabei noch zu lieben, ist besser. Einen Platz an der Sonne versprechen, wenn man sich anstrengt, ist gut. Einen Platz an der Sonne schenken, Liebe verschenken, einfach so – das ist besser. Jesus begegnen, das ist wie der Sonne begegnen, mitten im Winter. Seine Liebe spüren ist wie Sonne satt für die Seele. Die Augen schließen und spüren, wie sich unter der Herzenswärme langsam die Härchen hochstellen. Heute ist Johannistag. Die Sonne am Himmel nimmt ab. Aber es gibt eine Sonne, die leuchtet umso kräftiger, je dunkler es draußen wird.

 

Mittwoch, 25. Juni 2003

Zur Freiheit hat euch Christus befreit. Also lasst euch nicht wieder zu Sklaven machen. Der gute alte Paulus hat uns das schon vor 2000 Jahren ins Stammbuch geschrieben. Menschen wollen nicht immer nur frei sein. Ein großer Freiheitsprophet hat das in einem Roman packend beschrieben. George Orwell- heute wäre er 100 Jahre alt geworden. Dass er mit seiner Romanidee mal einer Produktionsfirma eine lukrative Idee verschaffen würde, hätte George Orwell sicher nicht gedacht. Big Brother- das ist dem Roman 1984 ein Diktator, der in seinem Staat alle Untertanen durch eine Fernsehkamera überwachen lässt. Big Brother kontrolliert jedes Zimmer, beobachtet jeden bei den intimsten Dingen. Die Menschen in diesem Staat sind wie Ameisen. Sie arbeiten, pflanzen sich fort ohne Liebe und sie gehorchen der Partei. Die hat alles im Griff. Freiheit- das wird zum Unwort erklärt und schließlich zum Hirngespinst. Mit dem kameraüberwachten Menschenzoo in der Sendung Big Brother hat das Ganze herzlich wenig zu tun, die ich eher zum abgähnen finde. Eher schon mit der Debatte, wie viel Freiheit wir uns leisten können. Wenn wir uns sicher fühlen wollen vor Terroranschlägen, vor Kriminellen und Wirtschaftsflüchtlingen. Wie viel Sicherheit wollen wir haben und wie viel Überwachung nehmen wir dafür in Kauf? Orwell ist da ein unbequemer Prophet. Wie vor ihm schon Paulus. Die Freiheit steht über der Sicherheit. Sagen beide. Lieber die endlosen Debatten in kauf nehmen, und um einen Interessenausgleich ringen. Lieber sich informieren müssen, wählen gehen, sich mit Parteifilz herumschlagen. Lieber unbequeme Kritiker aushalten- als ein Machtwort haben, unter dem alles verstummt. Und das Leben nur noch zum Abgähnen wird. Das hat George Orwell scharfsinnig und spannend dargestellt. Und dafür hat er es verdient, unter die großen Propheten der Neuzeit aufgenommen zu werden, heute an seinem 100. Geburtstag.

 

Donnerstag, 26. Juni 2003

Vor mir ein Gesicht in Nahaufnahme. Auf einer Riesenleinwand. Das Gesicht von Günther Grass, dem Schriftsteller. Auf seiner Stirn bildet sich eine steile Falte. Sein Mund mit dem berühmten Schnauzbart zieht sich zusammen. Er holt Luft, als wollte er was sagen. Aber sagt dann doch nichts. Danach ein anderes Gesicht in Großaufnahme. Und noch eins. Ein Film voll mit schweigenden Gesichtern. Zu sehen auf einer Berliner Ausstellung mit dem Titel: Warum, Warum mit Ausrufezeichen. Der Künstler wollte einfach nur Gesichter zeigen. Gesichter, die über eine Frage nachdenken. Warum. Meine Kinder haben früher ständig gefragt, warum. Warum ist die Banane krumm? Warum bläst der Wind? Warum muss Opa sterben? Anfangs war ich schnell mit der Antwort. Na klar, die Banane wächst schräg wegen der Staude, der Wind kommt von den thermischen Strömungen. Ja und Opa musste sterben, weil seine Organe schwächer geworden sind. Aber das war für meine Kinder nicht befriedigend. Warum sind beim Opa die Organe schwächer geworden? Na, weil alle Menschen älter werden? Und warum werden alle Menschen älter? Und so weiter und so weiter. Bis ich irgendwann auf den Trichter gekommen bin. Die Kinder wollen nicht nur wissen, wie was zusammenhängt. Sie wollten den Sinn verstehen. Was für einen Sinn das macht. Warum die Banane krumm ist und der Wind bläst. Was für einen Sinn hat es, wenn der Opa stirbt. Da muss man noch mal ganz neu nachdenken. Der Opa muss sterben, habe ich gesagt, weil Gott ihn wieder sehen will. Und außerdem muss er auf dich aufpassen. Das geht im Himmel am besten. Das hat ihnen eingeleuchtet. Für eine gewisse Zeit jedenfalls. Warum müssen Kinder sterben im Krieg? Wo ist der Sinn? Es gibt Fragen, auf die weiß ich keine Antwort. Da ist mein Gesicht stumm. So stumm wie das von Günther Grass auf der Ausstellung. Aber immer wieder zu fragen, zu bohren. Wie die Kinder. Bis die richtige Antwort kommt. Das weiß ich, das hat Sinn.

 

Freitag, 27. Juni 2003

In der Bibel habe ich eine ergreifende Liebesgeschichte gefunden. Eigentlich hätten die beiden glücklich werden können. Sie hatten nämlich alles. Einen schönen Garten, leckeres Essen, immer gutes Wetter. Und sie ließ ihm alle Freiheit - bis auf eine natürlich. Aber bei der erstbesten Gelegenheit lässt er sich verführen. Von irgend so einer Schlange. Tut mir leid, sagte er, aber das war diese Schlange, nicht ich. Als er sie ansah, so treuherzig, fand sie ihn irgendwie trotzdem süß. Also lass es uns noch mal versuchen. Eine Zeitlang ging es ganz gut. Aber dann kam wieder ein Hammer. Er suchte sich Kumpels, mit denen er um die Häuser zog. Aus den Ausflügen wurden Eroberungszüge. Und er war gut. Das tu ich nur für dich, sagte er. Damit du eine Königin wirst. Aber er wollte eigentlich nur die Macht. Sie war für ihn wie ein schönes Schmuckstück. Sie merkte das natürlich, sie merkte immer alles. und zog sich enttäuscht zurück. Da merkte er, dass sie die Quelle seiner ganzen Kraft war. Aber da war es zu spät. Seine Feinde fielen über ihn her und jagten ihn in die Wüste. Und als sie so sah, tat er ihr leid und sie fand ihn wieder so süß. Wenn sie ihm einen Sohn schenke, dachte sie. Vielleicht würde das unser Problem lösen. Am Anfang war er hell begeistert. Aber als der Junge ein Mann war, hatte er jede Menge an ihm auszusetzen. Viel zu sanft, viel zu gutmütig, viel zu wenig Gestaltungswille. Sagte er. Der gerät mal unter die Räder. Und es kam genau so. Schau mich nicht so an, sagte er zu ihr. Ich bin nicht schuld, sagte er. Wie damals bei der Geschichte mit dieser Schlange, sagte er das. Der Sohn jedenfalls starb eines unnatürlichen Todes. Und es war, als ob sie selber gestorben wäre. Diese ergreifende Liebesgeschichte steht in der Bibel. Gott, der den Menschen liebt wie eine von diesen Frauen, von denen es heißt, dass sie zu sehr lieben. Dass sie lernen müssen, sich abzugrenzen. Wie die Geschichte ausgeht? Keine Ahnung. Am letzten Kapitel schreiben wir alle noch mit.

 

Samstag, 28. Juni 2003

Altes Eisen oder alter Hase? Bei manchen älteren Herrschaften weiß man es nicht so genau. Weil sehen kann man es so schlecht. Ob altes Eisen oder alter Hase. Sehen kann man nur: Falten, schlaffe Haut, graues Haar, Glatze und krummer Rücken. Und so sah er auch aus. Wie ein netter Opa wie aus der Werbung. Einer, der mit seinen Enkeln auf der Wiese herumtollt und danach sein Gläschen Doppelherz trinken muss. Hans Blix, Chefinspekteur der UN- Waffenkontrolleure im Irak. Grade mal flott über die 70. Ein paar Wochen hing die Welt an seinen Lippen. Er sollte sagen, ob es denn Krieg geben muss gegen den Irak. Alter Hase oder altes Eisen? Die Amerikaner fanden die Wahl nicht schlecht. Denn als Direktor der Atomenergiebehörde hatte er noch ein Sträußchen mit den Irakis auszufechten. Haben die doch still und heimlich ein Atomwaffenprogramm auf den Weg gebracht, das er fast verschlafen hätte. Jetzt könnte er zeigen, wo die Harke hängt, dachten sie sich. Aber Hans Blix hatte niemandem zu zeigen, wo die Harke hängt. Er hat einfach nur seinen Job gemacht. Und er hat ihn gut gemacht. Denn bis jetzt hat auch kein anderer die befürchteten Waffen gefunden. Obwohl er schon längst entlassen wurde, macht er seinen Job weiter. "Wenn ihr keine Waffen findet, dann müsst ihr den Fehler in eurer Informationsquelle finden!" hat er wütend zu Protokoll gegeben. Der alte Hase. Vielleicht gibt es Jobs, die nur die alten Hasen machen können. Weil es ihnen egal ist, was man über sie denkt. Weil sie niemandem mehr irgendwas beweisen müssen. Weil sie wichtigeres zu tun haben, als sich um den ganzen Firlefanz zu kümmern, der nur aufhält. Schließlich wissen sie genau, dass die Pumpe das nicht ewig mitmacht. Ich hoffe, ich kann mich auch mal nützlich machen, wenn ich eine alte Frigatte bin. Muss ja nicht gleich die UNO sein. In diesem Sinne- alles Glück und Gesundheit zum 75. Geburtstag heute, Großväterchen Hans. God bless you, Mister Blix!