WORTE vom 29.09.-05.10.2002

 

ausgewählt von Pfr Helmut Siebert, Simmern, Evangelische Kirche

 

 

 

 

Sonntag, 29. September 2002

Sichtwechsel

Zwei Wassereimer stehen nebeneinander am Brunnen und reden miteinander. "Du siehst so unzufrieden aus", sagt der eine Eimer zum anderen Eimer. "Ach", sagt der, "ich denke gerade daran, wie nutzlos das Leben ist. Immer wieder werden wir neu gefüllt, um dann doch nur ausgegossen zu werden und leer wieder zurück zu kommen." "Na nu", sagt der erste Eimer, "so habe ich das noch gar nicht gesehen. Ich freue mich so darüber, dass wir zwar immer leer hierher kommen, aber jedes Mal wieder gefüllt weggehen dürfen."

(nach Martin Behnke)

 

Montag, 30. September 2002

Dank für Gottes Hilfe

Zwei Arbeitskollegen treffen sich morgens am Parkplatz vor der Firma. Denk dir", sagt der eine, "was ich eben gerade erlebt habe: Beinahe wäre ich heute morgen tot gewesen! An der Kreuzung dahinten, du weißt schon, da an der Ampel, da will ich gerade bei Grün losfahren, da geht mir plötzlich der Motor aus. Das Auto bockt, und ich knalle mit dem Kopf voll gegen das Lenkrad. Mir ist nichts passiert, aber gerade will ich den Wagen wieder anlassen, da saust ein Lastwagen über die Kreuzung, obwohl der doch Rot hat. Entweder hat der die Ampel übersehen oder konnte nicht mehr bremsen. Da hab´ ich gebetet und Gott gedankt für meine wunderbare Rettung." Da antwortet der Kollege: "Wenn ich das so höre, muss ich sagen: Ich habe Gottes Hilfe heute noch viel wunderbarer erfahren als du. Mein Auto hat tadellos funktioniert; der Verkehr war ganz normal. Ich bin in überhaupt keine gefährliche Situation geraten. Gott sei Dank, wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können."

(nach Erich Wefel)

 

Dienstag, 1. Oktober 2002

Verwandlung

Ein Fluss will zum Meer, aber vor dem Meer liegt eine Wüste. Als der Fluss den unendlich weiten und heißen Sand sieht, bekommt er Angst und sagt: "Die Wüste wird mich austrocknen, oder sie macht mich zu einem stinkenden Sumpf." Da hört der Fluss eine Stimme, die sagt: "Vertrau dich der Wüste an." Aber der Fluss entgegnet: "Nein, dann verliere ich mich doch. Dann bin ich kein Fluss mehr. Dann bin ich nicht mehr ich selbst." Die Stimme sagt: "Du bleibst nur, was du bist, wenn du dich veränderst." Da fließt der Fluss in die Wüste. Dort trocknet ihn ein heißer Wind schnell aus. Wolken saugen den Fluss auf und tragen ihn über den heißen Sand. Als Regen wird er am anderen Ende der Wüste wieder abgesetzt. Und die Regentropfen fließen zusammen zu einem Fluss, schöner und frischer als vor der Wüste. So erreicht der Fluss sein Ziel.

(nach Gerhard Eberts)

 

Mittwoch, 2. Oktober 2002

Sinn

Ein blinder Mensch lebt in einem kleinen Haus mit einem großen Garten. Jede freie Minute verbringt er in dem Garten, den er liebevoll pflegt. Ob Frühling, Sommer oder Herbst, immer ist der Garten ein Blütenmeer. Einmal kommt ein anderer Mensch an den Garten und wundert sich: "Sagen sie", fragt der Besucher, "warum tun Sie das? Sie sehen doch überhaupt nichts von dem, was Sie da machen, oder?" "Nein", sagt der blinde Mensch, "ich sehe überhaupt nichts." "Aber warum kümmern Sie sich dann überhaupt um die Blumen?" fragt der Besucher. Da lächelt der Blinde und antwortet: "Ich kann Ihnen dafür vier Gründe nennen: Erstens liebe ich Gartenarbeit; zweitens kann ich die Blumen fühlen; und drittens kann ich natürlich ihren Duft riechen. Und der vierte Grund sind Sie." – "Ich? Aber Sie kennen mich doch gar nicht." "Auch das stimmt," sagt der Blinde, "aber ich wußte, irgendwann würde jemand hier vorbeikommen und mich nach meinen Blumen fragen. Das wäre für mich eine Gelegenheit, mich etwas zu unterhalten."

(nach Hunter Gee)

 

Donnerstag, 3. Oktober 2002

Nachgiebig

Ein Polstersessel und ein Designerstuhl stehen nebeneinander und unterhalten sich. Der Polstersessel ist alt, ausgefranst und schon ein bisschen fleckig. Der Designerstuhl hat Chrombeine und eine elegant gestylte Sitzfläche. Wenn Menschen vorbeikommen, setzen sie sich meistens in den Polstersessel. Das wundert den Designerstuhl, denn er fühlt sich so frisch und stark. "Wie kommt das eigentlich", fragt der Stuhl deshalb den Sessel, "wie kommt das eigentlich, dass die Menschen dich so bevorzugen?" Da lächelt der Sessel den Stuhl an und sagt: "Das kommt vermutlich daher, dass ich nicht nur stabil bin, sondern auch nachgiebig."

(nach Willi Hoffsümmer)

 

Freitag, 4. Oktober 2002

Glück oder Unglück

Ein armer Bauer hat nur ein kleines Haus, ein mageres Pferd und einen einzigen Sohn. Eines Tages läuft ihm das Pferd davon. Seine Nachbarn bedauern ihn, aber der Bauer sagt: "Woher wisst ihr, dass das für mich ein Unglück ist?" Eine Woche später kommt das Pferd zurück. Es bringt zehn Wildpferde mit, und die Nachbarn gratulieren dem Bauern. Aber der fragt: "Woher wisst ihr, dass das für mich ein Glück ist?" Eine Woche später reitet der Sohn auf einem der Wildpferde; das Pferd wirft ihn ab und der Sohn bricht sich ein Bein. Die Nachbarn kommen und bedauern den Bauern, aber der Bauer sagt: "Woher wisst ihr, dass das für mich ein Unglück ist?" Eine Woche später bricht ein Krieg aus. Alle jungen Männer müssen Soldaten werden – mit Ausnahme des Bauernsohnes, der mit seinem gebrochenen Bein nicht in den Krieg ziehen kann.

(eine chinesische Erzählung)

 

Samstag, 5. Oktober 2002

Ein Riese

Wie eine Bombe fällt der Stein. Straßen und viele Wohnungen stürzen ein. Hunderte brechen ein Bein. Zwei Dutzend bricht das Genick. Andere haben noch Glück. Doch zusammengebrochen ist das Werk vieler Jahre. Aber schon rennen Tausende herbei. Tote werden weggetragen. Man zieht, zerrt, schleppt Trümmer und baut neu auf: neue Wege, neue Zimmer. Doch mitten im Getümmel hört man da und dort einen sagen: "So ein Lümmel!" Wer hat den Stein geworfen? Wer war der Verbrecher? Wer? Es war ein Kind – was dachte es nur! Es dachte nicht viel. Es warf nur zum Spiel den Stein auf den Ameisenhaufen.

(nach Josef Guggenmos)