|
WORTE
vom 26.05.-01.06.2002
ausgewählt von Pfarrer Roland Spur,
Evangelische Kirche
Sonntag, 26. Mai 2002
Bekenntnis
»Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre.
Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.«
anonyme Bekenntnissätze aus dem Warschauer Ghetto nach der Zerstörung
in einem Versteck aufgefunden
Montag, 27. Mai 2002
Mein letzter Tag war voller Überraschungen.
Alles begann mit einem stechenden Schmerz auf dem Brustbein.
Anfangs dachte ich noch an Verdauungsstörungen, aber dann wurde der
Schmerz immer stärker. Es war ein Gefühl, als würde mir jemand auf
dem Brustkorb sitzen. Gleich darauf brach mir der Schweiß aus, und
ich bekam kaum noch Luft. "Jetzt ist es soweit", dachte ich
und bekreuzigte mich unwillkürlich. "Aber was", schoss es
mir durch den Kopf, "wenn jetzt doch alles vorüber wäre?"
Aber schon nach kurzem Nachdenken verwarf ich die Überlegung.
Es schien mir unmöglich, dass jemand ein solch gewaltiges Ding wie
das Leben auf die Beine stellt, mit Milliarden und Abermilliarden von
Galaxien, mit Kunstwerken wie den Pyramiden, dem Kolosseum oder »La
Gioconda«, mit Persönlichkeiten wie Beethoven, Marilyn Monroe oder
Maradona, und dann vergisst, für ein würdiges Finale zu sorgen.
Nein, völlig ausgeschlossen! Ich weigerte mich zu glauben, dass es
nach dem Tod nur noch ein Nichts geben sollte. Und außerdem fragte
ich mich: "Was zum Teufel könnte dieses Nichts sein?"
Luciano De Crescenzo: »Als wäre es gestern gewesen« , Seite
104ff.
Dienstag, 28. Mai 2002
Immer Wieder
Immer wieder in dem Gemetzel steht ein Mensch da und reißt sich
vom Hemde die Streifen, zu verbinden den Mitmensch. Von den Menschen
am Straßenrand kommt ein Ruf: Kopf hoch! Es dauert nicht ewig! Den
Verwüstern ihrer Hütten reichen die Bäuerinnen Brotlaibe: Nehmt,
Unglückliche! Die Schlächter toben. Ihre Opfer sagen von ihnen: Es
ist schade um sie. Der Fremde wird gespeist. Der Neue wird beraten.
Der Niedergeworfene wird aufgerichtet. Immer wieder. Auch in dieser
Zeit.
Bertolt Brecht, Gedichte 1941 – 1947
Mittwoch, 29. Mai 2002
Letzter Wille
Wenn ich Pflanze werden sollte, dann lieber Wiese oder Rasen,
giftiger Schierling will ich nicht sein.
Wenn ich unter einem Weg begraben werde, dann sollen da oben
Hochzeitskutschen fahren, nicht Panzer oder Kriegsgerät.
Kinder sollen laufen über mir, nicht Soldaten, weder Flüchtling,
noch Verfolger.
Wenn ihr Ziegelsteine aus mir macht, dann nutzt mich in der Schule,
niemals im Gefängnis.
Macht Stifte aus mir, Bleistift, Filzer oder Kuli und schreibt damit
Gedichte über Liebe, nie schreibt mit mir ein Todesurteil.
Wenn ich sterbe, soll ich leben in den Frühlingsblättern, doch um
Gottes Willen, niemals, nie in Waffen will ich weiterleben.
Aziz Nesin (türkischer Dichter)
Donnerstag, 30. Mai 2002
Alles wandelt sich
Alles wandelt sich. Neu beginnen, kannst du mit dem letzten
Atemzug.
Aber was geschehen, ist geschehen. Und das Wasser, das du in den Wein
gossest, kannst du nicht mehr herausschütten.
Was geschehen, ist geschehen. Das Wasser, das du in den Wein gossest,
kannst du nicht mehr herausschütten, aber alles wandelt sich. Neu
beginnen, kannst du mit dem letzten Atemzug.
Bertolt Brecht, Gedichte 1941 – 1947
Freitag, 31. Mai 2002
Prediger Salomo 9, 4 + 7 - 10a
Solange ein Mensch lebt, hat er noch Hoffnung, und ein lebender
Hund ist immer noch besser dran als ein toter Löwe.
So iss in Freuden dein Brot! Guten Herzens trink deinen Wein! So
hat‘s Gott für die Menschen vorgesehen. So hat Gott dein Tun
begnadet.
Nimm das Leben als ein Fest: Wirf dich in frisch gewaschene Kleider
und gönne dir gutes Parfum!
Genieße jeden Tag mit der Frau, die du liebst, solange dieses flüchtige
Leben dauert, das Gott dir geschenkt hat.
Das ist dein Teil am Leben, bei aller Mühsal dieses Lebens. Alles,
was deine Hand zu tun findet, tu es mit vollem Einsatz.
Die Bibel, Prediger Salomo Kapitel 9, Verse 4 und 7 bis 10a
Samstag, 1. Juni 2002
Bekenntnis
Ich glaube, dass ich deswegen Christ bin, weil ich durch einzelne
Christen erfahren habe und noch immer erfahre, was Vergebung ist.
In ihr ist mir die schöpferische Herausforderung Jesu konkret
begegnet.
Vergeben, befreit und verändert: mich, den anderen und unsere
Beziehung zueinander.
Vergeben setzt frei, wo Gefangenschaft war.
Vergeben schafft eine Solidarität, die auch unsere dunklen, gefährlichen
Seiten mitträgt.
Dadurch wird es zu einer Quelle von Freundschaft und Liebe.
Kurt Marti
|