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WORTE
vom 10.-16.03.2002
ausgewählt von Nina Endres,
Katholische Kirche
Sonntag,
10. März 2002
Folgende
Begebenheit wird von Rainer Maria Rilke erzählt:
Vor
der Kirche Notre-Dame saß eine alte Bettlerin, die ohne erkennbare Gemütsbewegung,
auch ohne Dank die großen und kleinen Geldstücke der Vorübergehenden in
Empfang nahm. Mit seinem Freund kam Rilke des öfteren an der Bettlerin
vorbei. Eines Tages schenkte er ihr eine Rose. Da ging eine erstaunliche
Verwandlung in der alten Frau vor sich. Sie blickte auf, küsste die Hand
des Dichters, erhob sich mühsam von ihrem Platz auf den Stufen und
verschwand. Acht Tage lang war sie auf ihrem Stammplatz nicht mehr zu sehen.
Schon hatte man Sorge um die alte Frau; doch als sei sie nur verreist
gewesen, nahm sie nach diesen acht Tagen ihre Betteltätigkeit wieder auf.
Als man sie fragte, wovon sie in der vergangenen Woche gelebt habe, sagte
sie: Von der Rose.
Aus:
„Eine Zeit des Glücks“ von Rolf Breitenbach
Montag, 11. März 2002
Manchmal
hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich
lang; das kann man niemals schaffen. Und dann fängt man an sich zu eilen.
Und man eilt sich immer mehr. Jedes mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass
es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich
noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer
Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So
darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal
denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten
Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.
Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und
so soll es sein. Auf einmal merkt man, dass man Schritt vor Schritt die
ganze Straße gemacht hat.
Aus:
„Momo“ von Michael Ende
Dienstag,
12. März 2002
Draußen
war es ein unsäglicher Abend. Ich ging. Ich ging in Richtung einer
Sehnsucht, die nicht weiter nennenswert ist, da sie doch, wir wissen es und
lächeln, alljährlich wieder kommt, eine Sache der Jahreszeit, ein märzliches
Heimweh nach neuen Menschen, denen man selber noch einmal neu wäre, so, dass
es sich auf eine wohlige Weise lohnte, zu reden, zu denken über viele
Dinge, ja, sich zu begeistern.
Aus:
„Tagebücher“ von Max Frisch
Mittwoch,
13. März 2002
Plötzlich,
so im Gehen, morgens
auf dem Weg zur Arbeit, fühlte
er, wie warm der Tag war und
wie sehr schön und wohltuend die Sonne.
Sie
floss herab, endlos, ein
Strom, indem er dahinging mit allen anderen.
Das
hatte er lange nicht mehr gewusst, und
er nahm den Hut ab, um sich besser zu fühlen.
Jemand,
der ihm entgegenkam, dachte, der
andere habe ihn gegrüßt, weil er lächelte.
Aus:
„Lebenslauf. Gedichte“ von Walter Bauer
Donnerstag,
14. März 2002
Die
großen Worte
Sind
verlorengegangen
Es
heißt
mit
winzigen Wörtern
werben
um
Frieden und Liebe
im
Namen der Religionen
im
Namen der Ermordeten
im
Namen der Lebenden
die
leben wollen
im
Gold und Grün
unserer
Erde
Aus:
„Ich höre das Herz des Oleanders. Gedichte 1977-79“ von Rose Ausländer
Freitag,
15. März 2002
„Von
allem vermag man zu lernen“, sagte einmal der Rabbi von Sadagora zu seinen
Schülern, „alles vermag uns zu lehren. Nicht bloß alles, was Gott
geschaffen hat, auch alles, was der Mensch gemacht hat, vermag uns zu
lehren.“ „Was können wir“, fragte ein Schüler zweifelnd, „ von der
Eisenbahn lernen?“ „Dass man um eines Augenblicks willen alles versäumen
kann.“ „Und vom Telegraphen?“ „Dass jedes Wort gezählt und
angerechnet wird.“ „Und von Telephon?“ „Dass man dort hört, was wir
hier reden.“
Aus:
„Die Erzählungen der Chassidim“ von Martin Buber
Samstag,
16. März 2002
Vergnügungen
Der
erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das
wiedergefundene alte Buch
Begeisterte
Gesichter
Schnee,
der Wechsel der Jahreszeiten
Die
Zeitung
Der
Hund
Die
Dialektik
Dusche,
Schwimmen
Alte
Musik
Bequeme
Schuhe
Begreifen
Neue
Musik
Schreiben,
Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich
sein.
Aus:
„Gesammelte Werke“ von Bertolt Brecht
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