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WORTE
vom 01.-07.04.2001
ausgewählt von Herbert
Vinçon,
Sonntag, 1. April 2001
Anfangstag, was sollst du uns sein?
Du sollst uns ein Tag des Lebens sein, ein lebendiger Tag, ein Tag des
Mutes, ein Tag der Kraft, ein Tag hoher Ahnungen, ein Tag des festen
zusammen Fassens unserer selbst zum Anfang des Werks, ein Tag des
festen Glaubens an sein Gelingen, an seine Vollendung.
Heinrich Pestalozzi, aus den "Reden an sein Haus in Yverdon"
Montag, 2. April 2001
Glückwunschtelegramm zur Geburt eines Kindes
Geboren heute nacht
Die Falle Welt schnappt zu
und du ein Mensch was immer das.....
Hereinspaziert es lernt sich, glaube mir
es übt ganz ungemein das Sein
Vergib mir Abgebrühtem diesen Ton
denn schon schlägst du die Augen auf und unser ganzer Lohn ist Sehen
Ob Zufalls- oder Ebenbild
die Wahl, die Qual
ich wünsche sehr, sie bleibt dir nicht erspart.
Eva Zeller, Stellprobe. Gedichte DVA S. 97
Dienstag, 3. April 2001
Das Wort Mensch, als Vokabel
Eingeordnet, wohin sie gehört, im Duden: zwischen Mensa und
Menschengedenken.
Die Stadt alt und neu, schön belebt, mit Bäumen auch und Fahrzeugen,
hier hör ich das Wort, die
Vokabel hör ich hier häufig, ich kann aufzählen von wem, ich kann
anfangen damit.
Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus.
Johannes Bobrowski, Die Gedichte. DVA S. 217)
Mittwoch, 4. April 2001
Um den Nächsten lieben zu können, muss man sich auf den
Standpunkt Gottes zu stellen wissen, der allen Menschen gleiches Recht
gibt und von ihren augenblicklich hervortretenden Unrichtigkeiten
absieht.
In der Beurteilung dieser Unrichtigkeiten sind wir Menschen stark, es
gibt kaum einen Menschen, der nicht urteilt, über jeden, der ihm
begegnet, sich bald ein Urteil macht, und nach diesem Urteil sein
Benehmen einrichtet.
Das gilt bei uns nicht nur für richtig, sondern auch für sehr klug,
und wer’s nicht so macht, erscheint töricht, ja närrisch.
Und doch ist das keine Liebe; deswegen sollte man sich’s angewöhnen,
dass man die Augen des Urteils sich ganz ausreißt.
Lieber sich anführen lassen!
Ich bin schon oft angeführt worden.
Der liebe Gott kann einen ganz gut bewahren ohne diese misstrauischen
Augen.
(Aus einer Morgenandacht von Christoph Blumhardt d.J.)
Donnerstag, 5. April 2001
Frühes Glück
Die meisten Möglichkeiten, die hellsten Horizonte – sie alle
waren mein, ja mein, als ich nichts war und konnte.
Wer noch nichts ist, der wird was, wird Mönch oder Verbrecher.
Wer noch nichts kann, muss auch nicht hörn, er werde sichtlich schwächer.
O führt denn gar kein Weg zurück ins helle, ins besonnte, ins
unvergessne frühe Glück, da ich nichts war und konnte?
Robert Gernhardt, Lichte Gedichte S. 50)
Freitag, 6. April 2001
Meine Mutter
Sie ging gern in den Zirkus. Dort zitterte sie vor Löwen und
Tigern und verfolgte misstrauisch jede Bewegung. Wenn sie knurrten
oder den Rachen aufrissen, warnte sie den Dompteur mit kurzen,
tonlosen Schreien. Erst wenn sie die Arena verließen, applaudierte
sie sichtlich erleichtert.
Jongleure und Elefanten entzückten sie.
Bei den Kapriolen der Reiter war sie kaum auf dem Sitz zu halten.
Federnwippen und Flitterkostüme machten sie wieder zum Kind.
Am meisten liebte sie Clowns. Sie genoss die Gelegenheit, endlich
einmal über Missgeschick auch zu lachen.
Nur bei Seilakten und den Flügen von Trapez zu Trapez schloss sie die
Augen und legte die Hände inmitten der atemlosen Erregung friedlich
entspannt in den Schoß.
Einmal stieß ich sie an und zischte: "Schau doch! Schlafen
kannst du zu Hause." Zürnend wehrte sie ab: "Lass mich! Ich
bete für sie."
Christine Busta (In: Wenn du das Wappen der Liebe malst. Gedichte
S. 70f)
Samstag, 7. April 2001
Der Axtdieb
Ein Mann hatte seine Axt verloren und vermutete, dass der Sohn des
Nachbarn sie ihm gestohlen habe. Er beobachtete ihn daher genau: sein
Gang, sein Blick war ganz der eines Axtdiebes. Alles, was er tat, sah
nach einem Axtdieb aus.
Einige Zeit später fand der Mann zufällig die Axt unter einem
Bretterhaufen. Am nächsten Tag sah er den Sohn des Nachbarn: Sein
Gang war nicht der eines Axtdiebes, auch sein Blick war nicht der
eines Axtdiebes.
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