Worte der Woche

 

 

ausgewählt von Herbert Vinçon Katholische Kirche

 

 

 

 

Das Wort der Woche

 

Mittwoch, 24. Januar 2001

Was haben Sie gegen "Hallo"?

Also gut: ich habe etwas gegen "Hallo". Ich bin sozusagen der Dienstälteste einer ziemlich anständigen Familie, habe eine vielseitig-tätige Frau, drei Töchter, fünf Enkelkinder, die, wie man sagt, zu den schönsten Hoffnungen berechtigen; zwei meiner Enkel lesen Verse von Ovid und platonische Dialoge mit eben der Geläufigkeit, mit der ich den ‚Ermstalboten‘ lese.
Diese Enkel sind ihrem Großvater zugetan; sie kommen zu Besuch.
Sie stürmen die Treppe herauf und rufen "Hallo".
Und da gibt es dann den Stich, einen winzigen Einstich, nicht der Rede wert. Doch: der Rede wert.
Ich erwidere den Ruf, in dem ich "Grüß dich", dazu den Namen oder einen Neck- und Übernamen, an denen bei uns kein Mangel ist, und dann folgt Rede und Gegenrede, tempo presto – über Stock und Stein.
Was habe ich gegen "Hallo"? "Hallo" ist ein Wurfgeschoß, ein Tennisball, der an die Stirn trifft, ein Lebensschrei; es ist eine Art Weltumarmung.
Aber es ist kein Gruß. "Ein Gruß ist etwas Grenzenloses" hat Hugo von Hofmannsthal gesagt. Nun gut, etwas Grenzenloses ist "Hallo" auch;
aber es ist für alle und keinen, es ist keine Anrede, es sucht niemanden, und wenn es findet, so findet es wie im Zufall, namenlos.

Albrecht Goes, (Vierfalt. Wagnis und Erfahrung. Fischer-Bücherei 11633 S. 99)

 

 

weitere Worte der Woche

 

21. Januar 2001

Sieben Leben

Sieben Leben möcht ich haben:
Eins dem Geiste ganz ergeben,
So dem Zeichen, so der Schrift.
Eins den Wäldern, den Gestirnen
Angelobt, dem großen Schweigen.
Nackt am Meer zu liegen eines,
Jetzt im weißen Schaum der Wellen,
Jetzt im Sand, im Dünengrase.
Eins für Mozart. Für die milden,
Für die wilden Spiele eines.
Und für alles Erdenherzleid
Eines ganz. Und ich, ich habe –
Sieben Leben möcht ich haben! –
Hab ein einzig Leben nur.

Albrecht Goes, (Lichtschatten du. Gedichte aus fünfzig Jahren. S. Fischer. S. 29)

 

 

Montag, 22. Januar 2001

Morgens um acht

Neulich habe ich einen Hund gesehen – der ging ins Geschäft.
Es war eine Art gestopfter Sofarolle, mit langen Felltroddeln als Behang, und er wackelte die Leipziger Straße zu Berlin herunter;
ganz ernsthaft ging er und sah nicht links noch rechts und beroch nichts, und etwas anderes tat er schon gar nicht.
Er ging ganz zweifellos ins Geschäft. 
Und wie hätte er das auch nicht tun sollen? Alle um ihn taten es.
Da rauschte der Strom der Insgeschäftgeher durch die Stadt.
Morgen für Morgen taten sie so. Sie trotteten dahin,
sie gingen zum Heiligsten, wo der Deutsche hat, zur Arbeit.
Der Hund hatte da eigentlich nichts zu suchen – aber wenn auch er zur Arbeit ging, so sei er willkommen.
Es saßen zwei ernste Männer in der Bahn und sahen durch die Glasscheiben.
Da fuhr die Bahn an einem Tennisplatz vorüber.
Die güldene Sonne spielte auf den hellgelben Flächen -, es war strahlendes Wetter.
Und einer der ernsten Männer murrte: "Haben auch nichts zu tun, sehen Sie mal!
Morgens um acht Uhr Tennis spielen! Sollten auch lieber ins Geschäft gehen - !"
Ja, das sollten sie. Denn für die Arbeit ist der Mensch auf der Welt, für die ernste Arbeit, die wo den ganzen Mann ausfüllt."

Kurt Tucholsky, (Zwischen gestern und morgen. Rororo 380 S. 10f)

 

 

Dienstag, 23. Januar 2001

Der fromme Angler

Bei Ascona im Tessinischen lebt ein Mann, der hat es mit der Frömmigkeit und liebt die Lebewesen und alles, was da kreucht und fleucht. Gut.
Nun angelt der Mann aber sehr gern. Und da sitzt er denn so manchmal am Lago Maggiore
und lässt die Beine baumeln, hält die Angelrute fest und sieht ins Wasser. Und dabei betet er.
Er betet nämlich, es möge kein Fisch anbeißen. Weil sich doch Fische immer so quälen müssen, wenn sie am Angelhaken zappeln, und das möchte der Mann nicht,
und da sendet er dann ein heißes Gebet nach dem andern zum lieben Gott, Abteilung Lago-Maggiore-Fische: es solle auch gewiss keiner bei ihm anbeißen. Und dann angelt er weiter.
O meine Lieben! Ist dieser Mann nicht so recht eine Allegorie, ja, ein Symbol? Er hat das Höchste erreicht,
was Menschen erreichen können: er hat die himmlischen Ideale mit seinen sündigen Trieben zu vereinigen gewusst, und das will gekonnt sein.
Den Fischen, die da bei ihm zappeln, wird es ja gleich sein; aber bei ihm ist es nicht gleich,
denn er hat nun beides: die Fische und die Seelenruhe.

Kurt Tucholsky, (Zwischen gestern und morgen. Rororo 380 S. 163)

 

 

Donnerstag, 25. Januar 2001

Ein kleines Mädchen hat Kirschen gestohlen.
Sie ist sehr unglücklich darüber.
Sie wird ein großes Mädchen, dann wird sie ein altes Mädchen,
und noch immer betrübt es sie, dass sie die Kirschen gestohlen hat.
Sie stirbt.
Sie erscheint vor dem himmlischen Richter, und der sagt zu ihr:
"Du bist gerettet, weil du die Kirschen gestohlen hast".
Ich habe diese Geschichte von einem Pater gehört.
Man sollte einmal darüber nachdenken.
Sie macht klar, wie gefährlich es ist, sich ein Richteramt anzumaßen, von dem der Mensch sich überhaupt keine Vorstellung machen kann.

Jean Cocteau, (Vollendete Vergangenheit. Tagebücher 1951-1952 S. 431)

 

 

Freitag, 26. Januar 2001

Wir kämpfen unablässig, uns zu befreien.
Oder, um es etwas anders auszudrücken: während wir so innig und sogar verzweifelt an uns selbst festzuhalten scheinen,
würden wir uns viel lieber wegschenken.
Wir wissen bloß nicht wie.
Also werfen wir uns manchmal weg. 
Während wir doch eigentlich wünschten, nicht mehr so ausschließlich und eitel um unsertwillen zu leben, unrein und unwissend, nach innen gewandt
und selbst-verstrickt.
Die Suche, beginne ich zu glauben, sei es nach Geld, nach Ruhm, Ruf, mehr Stolz,
ob sie uns nun zum Diebstahl, noch Schlimmerem oder zu großen Opfern führt, die Suche ist ein und dieselbe.
Alles Streben geht auf ein Ziel. Diesen Impuls verstehe ich nicht ganz.
Aber es scheint mir, dass sein letztes Ziel der Wunsch nach ungetrübter Freiheit ist.
Wir fühlen uns alle zu den gleichen Kratern des Geistes hingezogen – zu wissen, was wir sind und wofür wir da sind, unseren Zweck zu kennen, Gnade zu finden. Und wenn die Suche dieselbe ist, dann werden die Unterschiede in unserem persönlichen Leben,
die uns bisher so viel bedeutet haben, bedeutungsloser werden.

Saul Bellow, (Aus dem Roman "Mann in der Schwebe")

 

 

Samstag, 27. Januar 2001

Gebet

Ich bin fest entschlossen, von nun an mein wahres inneres Ich siegen zu lassen über mein falsches äußeres Ich, das nur dessen Diener ist.
Es ist normal, dass dieser Diener die Schläge bezieht, wie Leporello als Don Juan verkleidet.
Mein wahres Ich gibt die Befehle.
Es ist eine Schande, dass mein falsches Ich sich beklagt über das, was aus diesen
Befehlen folgt.
Amen.

Jean Cocteau, (Vollendete Vergangenheit. Tagebücher 1951-1952 S. 382)

 

 

 

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