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GEDANKEN
vom 10.-16.06.2001
ausgewählt von Dorothee
Wüst
Evangelische Kirche
Sonntag, 10. Juni 2001
Gott offenbart sich, zeigt sich der
Welt. Offenbarung hat etwas mit offen zu tun. Gott legt die Karten auf
den Tisch. Ganz offen. So dass jeder sehen und verstehen kann. Sonst wäre
es ja keine Offenbarung. Und dennoch sehe ich viel und verstehe oftmals
nichts. Verstehe nicht, wer Gott ist und wie er handelt. Und dann hadere
ich mit Gott. Weil ich verstehen will und nicht verstehen kann. Und vor
allem nicht verstehen kann, warum ich nichts verstehe. Schließlich hat
er sich doch offenbart.
Manchmal scheint mir alles klar. Ich erlebe Gutes, Freude, Fülle. Ah,
denke ich, jetzt habe ich verstanden. Jetzt weiß ich, wie der Hase läuft.
Oder besser gesagt: Wie Gott handelt. Nämlich voller Liebe für mich
Menschenkind. Und eine Sekunde später haut es mich zu Boden. Eine
Sekunde später ist Gott verborgen, mysteriös und geheimnisvoll. Und
ich verstehe gar nichts mehr. Weder von Gott noch von der Welt noch von
mir. Muss das denn sein?
Ja, es muss sein. Auch wenn es mir nicht passt. Manchmal wäre es mir
schon lieber, wenn ich Gottes Tagesordnung schriftlich und in dreifacher
Ausfertigung vor mir liegen hätte. Heute wird er die Kinder in Indien
aus den Teppichfabriken holen und danach eine kleine Ansprache zur
Menschenwürde in irgendeinem der Kriegsgebiete dieser Welt halten.
Etwas in der Art. Ja, manchmal wäre ich dankbar, wäre Gott
berechenbarer. Aber er ist es nicht. Weil er Gott ist. Und ich Mensch.
So einfach ist das.
Wir Menschen werden nie aufhören, Gott verstehen zu wollen. Das gehört
zu unserem Menschsein. Und Gott wird nie aufhören, Gott zu sein.
Deswegen werden wir ihn nie ganz verstehen können. In diesem Leben
nicht. Auch das gehört zu unserem Menschsein. Gott legt die Karten auf
den Tisch. Ganz offen. Aber es ist Gottes Spiel. Und für meine
Menschenaugen wohl zu kompliziert. So läuft das Spiel. Nur eins weiß
ich sicher, und das ist schließlich die Hauptsache: Wenn Gott die
Karten gibt, kann es kein falsches Spiel sein.
Montag, 11. Juni 2001
Dass ich mit mir zufrieden bin, kommt
nicht sehr häufig vor. Nur so ab und zu gelingt mir etwas, das meinen
Ansprüchen stand hält. Dann fühle ich mich von Herzen gut und genieße
diesen Augenblick. Denn mehr als ein Augenblick ist es nicht. Dann kommt
garantiert ein freundlicher Mitmensch, der den Haken entdeckt hat. Das
haben Sie ja sehr schön gemacht, aber...
Das Wörtchen "aber" - ein Juwel der deutschen Sprache. Nur im
Mund so mancher Menschen verkommt es zum Vehikel für Besserwisserei und
Miesmacherei. So als würde man einander gar nichts gönnen - noch nicht
einmal den kurzen Augenblick eines guten Gefühls. Nichts gegen
berechtigte Kritik oder den Austausch guter Argumente. Da hat das
"aber" seinen guten und wertvollen Platz. Andererseits scheint
es unglaublich schwer, anderen einfach etwas Nettes zu sagen. Ohne es
gleich wieder einzuschränken.
Es ist schon so. Menschen neiden einander nicht nur die schicken Autos
und die großen Häuser. Sie neiden einander sogar das gute Gefühl
eines kurzen Augenblicks. Als würden sie sich dadurch besser fühlen,
wenn andere sich mies fühlen. Verquere Logik. Denn niemand geht es
wirklich besser, wenn er einem anderen so richtig den Tag versaut hat.
Er hat nur dafür gesorgt, dass es dem anderen auch nicht gut geht.
Deshalb die nette Idee zum Tag: Wie wäre es mal mit einem Kompliment
statt mit hochgezogenen Augenbrauen? Etwas in der Art: Sieht gut aus,
das neue Kleid. Oder: Wirklich gelungene Präsentation. Oder: Was für
ein leckerer Salat. Und gut aufpassen, dass dann kein "aber"
kommt, sondern nur ein großes wohltuendes Ausrufezeichen.
Dienstag, 12. Juni
2001
Das Gespräch ergibt sich am Rand eines
Festes. Ich sitze neben einer jungen Frau, die ich nicht kenne. Sie
fragt mich nach meinem Beruf. Ich antworte, dass ich Pfarrerin bin.
"Du lieber Himmel," sagt sie, "dann beten Sie bestimmt
oft." "Von Zeit zu Zeit", antworte ich wahrheitsgemäß.
"Ach Gott, das könnte ich nicht", seufzt sie und wirkt ein
wenig zerknirscht.
"Sie haben es gerade getan", sage ich und komme wir vor wie
Frau Tilly in der Spülmittelwerbung. Nur badet meine Gesprächspartnerin
nicht gerade ihre Hände in Wie-auch-immer-das-Spülmittel-heißt,
sondern sie hat gerade gebetet. "Oh Gott, nein", ruft sie.
"Sehen Sie, da war es schon wieder", antworte ich und verstehe
ihre Verwirrung.
Unter Beten verstehen viele Menschen etwas ganz Großartiges. Mit
geistiger Vorbereitung und brillanten Worten. Als wäre Gott mindestens
Professor an irgendeiner himmlischen Universität. Als würde er mit
Oberlehrer-Brille und gespitztem Bleistift jedes meiner Worte auf die
Goldwaage legen. So als könnte man richtig beten oder - ja was denn:
falsch beten?
Falsch beten gibt es schon einmal nicht. Einfach nur beten. Das gibt es.
Und dafür genügt manchmal schon ganz wenig: "Du lieber Himmel,
das hat mir gerade noch gefehlt!" Kurzes, knackiges Gebet.
"Ach Gott, wie soll ich das nur schaffen?" Ein Stoßseufzer
der Überforderung mit Gott als Adressat. Oder: "Gott, das ist ja
großartig." Kann man Dank und Freude brillanter gen Himmel
schicken?
Nicht dass ich meine Stoßseufzer immer im Griff hätte. So etwas
entschlüpft mir. Ganz spontan. Einfach so. Darüber denke ich nicht großartig
nach, wähle nicht sorgfältig die Worte. Aber vielleicht ist das der
Witz am Beten. Dass es wirklich von Herzen kommt. So ganz von innen. Ach
Gott, so einfach.
Mittwoch, 13. Juni
2001
Heute beginnt der 29. Deutsche
Evangelische Kirchentag in Frankfurt am Main. Menschen werden sich in
den Straßen drängen, in den Messehallen stauen und sich auf dem Markt
der Möglichkeiten gegenseitig auf die Füße treten. Und so manch einer
wird sehnsuchtsvoll das Motto des Kirchentags in seinem Herzen bewegen:
Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum.
Wenn es schon der Kirchentag nicht tut, wie tut es dann Gott? Auf
welchen weiten Raum stellt er meine Füße? Zunächst einmal auf diese
Erde. Ein recht weiter Raum für meine Füße, die überall auf dieser
Erde Heimat haben. Sie wandern durch Landschaften und Länder mit
Menschen, die ich nicht kenne und die mit ihrem Leben mein Leben reicher
machen. Und da tut sich der nächste weite Raum auf.
Meine Füße stehen im weiten Raum der Menschheit. Ob am Nordpol oder in
Südamerika, ob in Afrika oder in China - die sind alle so gebaut wie
ich. Die denken nicht immer dasselbe und sie tun nicht immer dasselbe.
Sie essen nicht immer dasselbe und lachen nicht über dieselben Witze
wie ich. Und dennoch sind sie alle gebaut wie ich. Mit Herz und
Verstand. Und da tut sich der nächste weite Raum auf.
In meinem Inneren. Ich kann Liebe empfinden und Freundschaft. Ich kann
zumindest offen sein für mein Gegenüber. Ich kann es genießen, einer
Meinung zu sein. Und ich kann Spaß daran haben, über Verschiedenheiten
zu diskutieren. Oder wenigstens kann ich andere so achten, wie sie sind.
Weil sie mich so achten, wie ich bin. Ich kann anderen ihren Raum gönnen,
weil sie mir meinen gönnen. Ich muss niemanden zur Seite schieben, weil
es vor Gott genug Platz für uns beide gibt.
So eng kann es auf der Erde gar nicht werden, dass nicht jeder und jede
genug Raum hätte. Im weiten Raum, auf den Gott unsere Füße stellt.
Weiter Raum voller Achtung und Respekt mit genügend Platz für
Miteinander und Gemeinschaft.
Donnerstag, 14. Juni
2001
Das ältere Ehepaar gehört zu denen,
die sich ohne Worte verstehen. Demnächst werden sie ihre Goldene
Hochzeit feiern. Fünfzig Jahre des Zusammenlebens - geht das ohne
Schwierigkeiten? Nein, sagen beide. Sie lächelt und legt ihre Hand auf
seine: "Wir hatten es manchmal auch schwer miteinander."
Und wie schafft man es dann trotzdem? Jetzt antwortet er: "Einmal
habe ich meine Koffer gepackt. Ganz hinten im Kleiderschrank lag dieser
kleine, alberne Hut, den sie getragen hat, als wir uns kennen gelernt
haben. Da bin ich geblieben." Ein kleiner, alberner Hut? Er fährt
fort: "Es war Krieg. Um uns herum lag alles in Schutt und Asche.
Und wie zum Trotz trug sie diesen Hut. Da wusste ich, mit dieser Frau
will ich alt werden."
Und was nützt das Jahre später? Ach was, die Antwort weiß ich auch
so: Es ist die Erinnerung an einen guten Anfang. Den Anfang einer Liebe.
Über dem ein Zauber liegt, dem auch die Jahre manchmal nichts anhaben können.
Und wenn die Zeiten schwer werden, dann wiegt der Anfang. Und mit seiner
Leichtigkeit wiegt er die Schwere auf.
Manche Liebe muss viel aushalten. So über die Jahre. Menschen verändern
sich, die Zeiten verändern sich. Und die Liebe bleibt manchmal auf der
Strecke. Eines Tages besinnt man sich und fragt sich, was einem
eigentlich noch zusammenhält. Fragt sich, wo die Liebe geblieben ist,
die einst so leicht und schwerelos war. Und die dennoch zwei Menschen
einmal so sehr miteinander verbunden hat.
Vielleicht hilft dann die Erinnerung an diesen Anfang. An das, was den
anderen so attraktiv gemacht hat. Was Schmetterlinge im Bauch hat
fliegen lassen und das Blut in Wallung gebracht hat. Und vielleicht ist
er ja auch noch da, der Zauber des guten Anfangs. Und wartet nur darauf,
entdeckt zu werden.
Freitag, 15. Juni
2001
Auf dem Papier klingt es ganz gut. Das Gesetz zur aktiven
Sterbehilfe, wie es die Holländer gerade verabschiedet haben. Es gibt
genug Situationen, die ich mir für mein Leben auch nicht gerade erträume.
Wo auch ich vielleicht auf mein Leben keinen Pfifferling mehr gebe.
Ohne Zukunft, ohne Heilung, ohne Perspektive. Warum also nicht? Warum
den Hahn nicht einfach abdrehen, wenn mir danach ist? Schließlich ist
es mein Leben.
Ist es auch. Es ist mein Leben, das ich leben muss. Vom ersten Tag bis
zum letzten. Und dennoch will ich dieses Gesetz hierzulande nicht
haben. Und das aus wenigstens drei Gründen.
Den einen finde ich direkt bei mir. Ich erinnere mich an Situationen,
wo mir das Sterben einfacher schien als das Leben. Keine Kraft mehr
zum Kämpfen, keine Lust mehr mich aufzurappeln. Nur noch Müdigkeit.
Nicht nur für Minuten, sondern für eine lange Zeit. Die ich
durchgestanden habe. Ich weiß nicht, wie. Aber sie ist vorübergegangen.
Und ich bin froh, dass sie vorüber ist. Und ich bin froh, dass ich
lebe. Heute schon. Wer hätte das damals sagen können?
Den anderen Grund finde ich in den Wohnungen und Altenheimen um mich
herum. Da gibt es viele Menschen, die auf ihr Leben keinen Pfifferling
mehr geben. Keiner braucht sie, keinem nutzen sie. Und das fühlen
sie. Und wollen nicht mehr sein. Keine Lust zum Leben mehr, weil ihnen
keiner Lust zum Leben macht. Bevor wir das Sterben leichter machen,
sollten wir das Leben leichter machen. Sollten wir Lust am Leben
machen. Gerade denen, die keine mehr empfinden.
Und schließlich geht es mir um die, denen wenig Zeit zum Leben
bleibt. Sie werden sterben. Irgendwann. Aber die Zeit zwischen Jetzt
und Irgendwann ist keine vertane Zeit, die man einfach übergehen
kann. Die letzte Zeit, die uns bleibt, kann so wertvoll sein. Mit
Menschen um mich herum, die mich begleiten. Mit Zuneigung und Wärme
und Aufmerksamkeit.
Nein, ich wünsche mir kein Gesetz für den leichten Abgang. Ich wünsche
mir Gesetze, die das Leben leichter machen. Bis zum Abgang.
Samstag, 16. Juni 2001
Gott schuf die Welt in sieben Tagen.
Und dann ruhte er aus. Bis das Telefon klingelte. Das himmlische. Gott
seufzte ein wenig, doch dann hob er den Hörer ab. Schließlich ist Gott
irgendwie immer im Dienst. Einer seiner Engel war am Telefon - außerordentlich
kleinlaut. Denn jeder Engel wusste, dass man am siebten Tag den Herrn
besser nicht störte.
"Was gibt es?", herrschte Gott den armen Engel an. "Es
ist der siebte Tag. Laut Verordnung mein Ruhetag. Also?" Der Engel
räusperte sich ein wenig und raffte seinen ganzen Mut zusammen:
"Hoher Herr, Euer Gnaden, Euer Himmlischkeit..." "Genug
davon", raunzte Gott. "Auch ich habe einmal Feierabend. Also
fasse dich kurz." "Sicher, Euer Erbarmen, dessen Geduld man rühmt
von Horizont zu Horizont." Gott seufzte im Stillen. Mussten sie
auch immer einen von der weitschweifigen Sorte in die Zentrale setzen?
"Meine Geduld ist bald am Ende. Sprich, du Engel, oder schweig für
immer." Das saß. Und der Engel sprach. "Gott, du wirst
gebraucht. Und zwar sofort." Kleine Pause. "Die Menschen
brauchen dich. Du weißt, diese Wesen auf zwei Beinen mit
Verstand." Natürlich wusste Gott. Schließlich hatte er sie
gestern erst in seine Welt gesetzt. "Eine wahrhaft gelungene Schöpfung",
dachte Gott - nicht ohne Stolz. Und wartete auf die Pointe.
"Sie haben Spaß und Freude", sagte der Engel mit leichtem
Ekel. "Sie tanzen und singen und legen sich in die Sonne. Als hätten
sie sonst nichts zu tun. Dem müsst Ihr ein Ende setzen." Gott war
ein wenig sprachlos. Hatten selbst die Engel von seinem Sonntag nichts
verstanden? Zaghaft hakte der Engel nach: "Nun, Herr, kann ich dem
himmlischen Einsatzdienst Euer Eingreifen melden?" Und Gott sprach
Ja. Da seufzte der Engel erleichtert und wagte noch einen letzten Vorstoß:
"Was, Herr, werdet Ihr tun, wenn ich fragen darf?" Und Gott,
der Allmächtige und Barmherzige, sprach: "Was werde ich wohl tun
an einem Sonntag? Ich werde tanzen und singen und mein göttliches
Antlitz in die Sonne halten."
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