GEDANKEN vom 08.-14.04.2001

 

ausgewählt von Dr. Peter Kottlorz, Katholische Kirche

 

 

 

 

Sonntag, 08. April 2001

Palmsonntag

Heute ist Palmsonntag. Immer wieder frage ich mich, was die religiösen Feste für mein Leben bedeuten. Der Palmsonntag ist für mich ein interessanter, geradezu moderner Feiertag. Er ist der scheinbar triumphale Beginn einer äußerst dramatischen Geschichte. Jerusalem war zur Zeit Jesu von römischen Truppen besetzt und es gab verschiedene politische Gruppierungen, die sich mit Waffengewalt gegen die Besatzer wehren wollten. Jesus muss sehr bekannt gewesen sein. Durch seine Botschaft und durch seine heilenden Taten. Die Menschen zu seiner Zeit waren ziemlich wundergläubig und nicht wenige sahen in ihm einen religiösen Erlöser, viele aber auch einen politischen Revolutionär. An einem Tag, an dem viele Pilger in Jerusalem waren, in diese Stadt ein. Sie war gerammelt voll und die Menschen waren in aufgeheizter Stimmung. Sie begrüßten ihn erwartungsvoll und waren vielleicht auch zu gewaltsamen Aktionen bereit. Die Palmen des Palmsonntags waren wie die Kleider, die die Menschen auf seinem Weg ausbreiteten, Zeichen der Ehrerbietung. Und Jesus? Er kam auf einem Pferdchen oder Esel. Er wollte zeigen, dass es ihm nicht auf äußere Zeichen von Macht und Reichtum ankam. Genau so wenig nutzte er die aufgeheizte Stimmung aus. Er zog sich am Abend aus der Stadt zurück, stiftete die Menge also zu keiner Revolte an. Er wollte keine äußeren Umstürze durch Menschenmassen sondern die innere Umkehr des Einzelnen. Das ist es, was ich vom Palmsonntag persönlich mitnehme. Es geht nicht um Macht und Reichtum bei der christlichen Religion und schon gar nicht um Gewalt. Es geht darum, sich nicht blenden zu lassen, von keiner Macht, keinem äußeren Glanz und keiner noch so schön klingenden Ideologie. Der Palmsonntag sagt mir, dass es eine sanfte innere Kraft gibt, die schöner ist als Prunk und Geld und stärker als alle Macht der Welt.

 

 

Montag, 09. April 2001

Karwoche

Mit dem Palmsonntag gestern hat die Karwoche begonnen.
Karwoche – die Silbe "Kar" stammt vom althochdeutschen "Chara" ab. "Chara" heißt Trauer, Wehklage. In der Karwoche gedenken die Christen des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi. Ich will vorsichtig sein, denn wie leicht gehen einem diese Formeln über die Lippen: Leiden, Sterben, Auferstehung. Wer je einen Menschen in seinem Leiden und bei seinem Sterben begleitet hat, wird diese Worte nicht leichtfertig aussprechen, wird vorsichtig sein, langsam tun. Genau das ist auch der Sinn der Karwoche: Sich Zeit nehmen, sich zurücknehmen, das Leben verlangsamen, still werden. Vergleiche hinken meistens, aber auch Fußballmannschaften ziehen sich zurück vor einem wichtigen Spiel, bereiten sich darauf vor, in einem Trainingslager. Priester machen religiöse Einkehrtage, um sich auf den Tag ihrer Weihe vorzubereiten. All das sind Versuche, den Kopf frei und das Herz aufzumachen für das ganz besondere Ereignis. Und das ist Ostern bei Gott. Die Osterereignisse zerstören zunächst eine alternative Welt und sagen gleichzeitig, dass diese Welt möglich ist. Mit dem Tod Jesu von Nazareth schien die Hoffnung auf menschliche Geborgenheit, auf Heilung an Leib und Seele zerstört, schien die Hoffnung ans Kreuz genagelt, die Hoffnung auf eine Liebe, die alle Enttäuschungen übersteht. Das Kreuz ist aber gleichzeitig das Zeichen dafür, dass diese schrecklichste aller Niederlagen überwunden ist. Ein Zeichen dafür, dass dieses Folterinstrument nicht am Ende steht, dass die Henkersknechte nicht das letzte Wort haben, sondern das Leben in seiner ganzen Fülle, seiner Schönheit und Kraft. Über den Tod hinaus. Das ist mit Auferstehung gemeint. Und ungefähr das müssen die Freunde Jesu erlebt haben, so intensiv erlebt haben, dass die Nachricht davon bis heute durch die Geschichte hallt.

 

 

Dienstag, 10. April 2001

Schuld

Wie die Sachverständigen erklärten, ist der Unfall auf menschliches Versagen zurückzuführen. So oder so ähnlich lauten die Meldungen wenn nach Gründen eines Unfalls gefragt wird, wenn nach Schuldigen gesucht wird. Menschliches Versagen – das heißt doch, auf die Technik ist Verlass. Die Maschinen, die Automatik, der Mikrochip haben funktioniert, aber der Mensch? Das müssen wir uns immer wieder anhören. Aber was bleibt da zurück? Für die, die versagt haben? Die einen Unfall oder gar eine Katastrophe verursacht haben. Schuld. Riesige Schuld. Und wie gehen wir um mit dieser Schuld? Als Zuhörer scheinbar beruhigt, weil ein Schuldiger gefunden wurde und damit das Unheil, der Unfall fassbarer wird. Und damit abzuhaken ist – bis zum nächsten Mal. Und als Betroffener, als Schuldiger? Mit Grauen stelle ich mir vor, dass ich selbst einmal schuldig werde. Selbst wenn ich nicht einmal was dafür kann, folgt der Schock. Und dann sicher der ohnmächtige Wunsch, es ungeschehen zu machen. Die verzweifelten Fragen: warum, warum gerade ich? Und dann die alles durchdringende Sehnsucht nach Vergebung. Dass mir die unheimliche Last der Schuld genommen wird.
Vor kurzem wurde der Lastwagenfahrer, der einen Unfall mit einem deutschen Reisebus verursacht hatte, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Er war zu schnell und übermüdet gefahren Bei diesem Unglück waren acht Jugendliche ums Leben gekommen.. Der 27jährige Unfallverursacher ist seitdem ein gebrochener Mann. Bei seiner Gerichtsverhandlung geschah etwas ganz Ungewöhnliches und Grandioses, sein Verteidiger las einen Brief vor, den die Eltern eines Jungen, der bei diesem Unfall getötet wurde, an den selbstmordgefährdeten Unfallverursacher geschrieben hatten. Darin steht: "Wir haben keinerlei Wut oder Hass auf Sie. Natürlich sind Sie zu schnell gefahren. Aber wer von uns hat das nicht schon einmal getan? Wie wir unseren Sohn gekannt haben, hätte er Ihnen längst verziehen."

 

 

Mittwoch, 11. April 2001

Gebet in der Autobahnkapelle

Herr, mein Gott, gestern war ich wieder in der Autobahnkapelle bei Baden-Baden. Du weißt, wie sehr ich diesen Ort mag. Diese Ruheinsel am Rande der Rennbahn. Sie haben Dir dort ein sehr schönes Haus gebaut. Es sieht aus wie ein Zelt in dem die "modernen Nomaden" zur Ruhe kommen können. Oder wie eine Pyramide, deren Spitze auf Dich, auf Deine Welt den Himmel zu zeigen scheint. Aber nicht nur die Architektur dieses Hauses zieht mich immer wieder an. Du weißt es, mein Gott. Es ist dieses Buch, das Gästebuch, das dort ausliegt und in dem die Menschen ihre Wünsche, Sorgen, Nöte und Gebete eintragen können. Es ist wie ein heiliges Buch für mich. Ein Konzentrat des Lebens. So wie es eben ist unser grandioses und grausames menschliches Leben. Zwei verschiedene Menschen haben Dir auf ein und der selben Seite folgendes geschrieben: Der eine: "Ich habe aus nichtigen Gründen meine Familie zerstört und soviel Leid über meine Frau und meine Kinder gebracht. Ich büße den Rest meines Lebens dafür. Wenn es eine Möglichkeit gibt, bitte Gott vergib mir."
Und direkt darunter der oder die andere: "Ich wünsche mir, dass alles so bleibt, wie es momentan ist. Vor allem ein gesundes Leben für meine Familie. Freude und Leid, Verzweiflung und Dankbarkeit so nah beieinander."
Mein Gott, ich kann nicht lange in diesem Buch lesen. Für meine Seele wird es schnell zuviel. Dieses dicke kostbare Lebensbuch: mit all den verschiedenen Handschriften mit all den verschiedenen Schicksalen. Deshalb vertraue ich sie Dir an, lieber, guter, wohlwollender Gott. Nicht um sie loszuwerden, nein weil ich glaube, dass allein Du diese Fülle aus Sorgen, Nöten, Freude und Leid aufnehmen und verstehen kannst. Und verändern, wenn sich die Menschen Dir öffnen.

 

 

Donnerstag, 12. April 2001

Das erste und das letzte Mal

Heute ist Gründonnerstag. Das ist der Tag an dem Jesus von seinen Freunden Abschied genommen hat. An diesem Tag hat er zum letzten Mal mit ihnen gegessen, ein Abschiedsmahl gehalten. Das letzte Abendmahl. Anfang und Ende. Das erste und das letzte Mal – diese Situationen im Leben haben es in sich. Das erste Mal ist in jedem Falle etwas ganz besonderes. Und zwar nicht nur das erste Mal mit jemandem zu schlafen, was landläufig oder jugendzeitschriftenmäßig meist mit dem "ersten Mal" verbunden wird. Das erste Mal hat es in sich mit all seinen Schwierigkeiten, die es bei den ersten Malen eben gibt, aber auch mit seinem Zauber, seiner Aura. Es ist wie wenn man ein Feld mit unberührten, frisch gefallenem Schnee betritt. Der erste Kuss, die erste Liebe, das erste Mal im Meer baden, das erste Mal fliegen oder das erste Kind. Man betritt Neuland und die Welt verändert sich. Nicht weniger hat es auch "das letzte Mal" in sich. Der letzte Kuss, der letzte Gruß, das letzte Wort. All diese "letzten Male" geben den Gesten, den Berührungen oder Worten eine Intensität, die oft an die Schmerzgrenze geht. "Das letzte Mal" gibt der Zeit davor eine neue Perspektive, manchmal einen verklärenden und manchmal einen enthüllenden Blickwinkel. Eine scheinbar alltägliche Begegnung wird im Bewusstsein, dass es das letzte Mal war, zur Kostbarkeit, zum verlorenen Schatz. Das erste und das letzte Mal, das sind Momente, in denen sich das Leben verdichtet. Das A und O, das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende. Die Schwelle, an der man einen Hauch vom Jenseits spürt. Aber nur ganz kurz, so, wie der Atem auf einem Spiegel kurz sichtbar wird und schnell wieder verschwindet. Aber doch lange genug, um die Sehnsucht zu wecken, die zwischen dem ersten und dem letzten Mal in uns schlummert. Die Sehnsucht nach dem Zustand, in dem sich das erste und das letzte Mal verbinden: zu einem glücklichen Immer.

 

 

Samstag, 14. April 2001

Offenbarung

In der Theologie, der wissenschaftlichen Lehre vom lieben Gott, gibt es bestimmte Schlüsselwörter, theologische "Big Points" sozusagen. Gott gehört natürlich dazu. Glaube, Trinität, Gnade, Schöpfung – oder Offenbarung. Gerade mit dem Offenbarungsbegriff und mit dem, was dahinter steckt, hatte ich so meine Probleme. Ich dachte immer Offenbarung muss so etwas Großes sein, ein geradezu ekstatisches visionäres Erlebnis, das mein Leben mit einem Schlag verändert. Nix war’s bisher. Stattdessen habe ich mehr und mehr Spuren entdeckt, kleine Offenbarungszipfel sozusagen, die mir eine Ahnung davon vermitteln, was mit den großen Worten gemeint sein könnte. Bei einem Urlaub in Österreich zum Beispiel: Schlecht Wetter war’s, aber nicht zu schlecht, um einen Ausflug auf einen Berg zu machen. Mit der Seilbahn, weil es für die Kinder zu Fuß zu beschwerlich gewesen wäre. Bei den Preisen für die Tickets blieb mir zwar kurz die Spucke weg, aber was soll’s, es war ja Urlaub. Je höher wir kamen, desto mehr rutschte die Stimmung bei mir in den Keller. Der Nebel wurde immer dichter und oben angekommen, standen wir mitten in den Wolken. Zehn Meter Sichtweite – höchstens. Um aber nicht ganz umsonst oben gewesen zu sein, schlug ich vor, wenigstens ein paar Schritte auf gesicherten Wegen um die Seilbahn herum zu machen. Und nach zehn Minuten geschah es: An einer Stelle riss der Himmel auf und plötzlich sahen wir, wo wir waren. Aus dem Grau wurden Farben, aus Nebel Licht. Einzelne Wolkenfelder flossen wie weiße Flüsse vor und hinter uns über den Bergrücken. Schließlich lösten sich die Wolken ganz auf und wir sahen die Welt unter uns und die grandiose Berglandschaft um uns herum: Eine Offenbarung. Vielleicht ist es mit unserem Leben hier- und dem danach ja ähnlich: Aus den Wolken ins Licht, vom Nebel zur Klarheit.