GEDANKEN vom 01.-07.04.2001

 

ausgewählt von Dorothee Wüst

Evangelische Kirche

 

 

 

 

 

 

 

 

Sonntag, 01. April 2001

Von dem Schriftsteller Franz Kafka wird folgende Geschichte erzählt:
Eines Tages geht Kafka im Park spazieren. Da hört er ein Weinen. Als er näher kommt, findet er auf einer Parkbank ein kleines Mädchen. Er setzt sich dazu und fragt nach dem Grund des Kummers. Es habe seine Puppe verloren, sagt das kleine Mädchen und schluchzt weiter. Wie gerne würde Kafka etwas tun. Aber was?
Schließlich erklärt er dem kleinen Mädchen, die Puppe sei nicht verloren, sondern nur verreist. Jetzt ist der große Schriftsteller in Beweisnot. Denn das kleine Mädchen lässt sich nicht so leicht überzeugen. Woher er das denn wisse, fragt sie ihn. Große Schriftsteller sind in der Regel weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen. Und so erfindet Kafka einen Brief. Einen Brief der Puppe, der angeblich bei ihm zu Hause liegt. Aber das kleine Mädchen will ihn sehen.
Und so setzt sich Kafka an diesem Nachmittag hin und verfasst einen Brief. Der genau erklärt, warum die Puppe verreist ist, dass es ihr gut geht und dass sie das kleine Mädchen grüßen lässt. Und es bleibt nicht bei diesem einen Brief. Insgesamt dreißig Briefe schreibt Kafka im Namen der Puppe. Bis deren Schicksal endlich ein glückliches Ende nimmt, weil sie jemanden kennen lernt und heiratet. Jetzt kann das kleine Mädchen seine Puppe in Frieden ziehen lassen. Schließlich ist die ja wohl an einem Ort, an dem sie gut aufgehoben ist.
Diese Geschichte ist weder weltbewegend noch revolutionär. Sie ist einfach schön. Weil sie so mitten im Alltag geschieht. Wo ein völlig Fremder auf ein Kind trifft, das traurig ist. Und statt es mit faden Ausreden abzuspeisen oder genervt das Weite zu suchen, lässt er sich auf die Kinderwelt ein und findet in dieser Welt eine Lösung, mit der das Kind leben kann. Ob die pädagogisch wertvoll oder philosophisch tragfähig ist, weiß ich nicht. Aber dass sie liebevoll ist, das weiß ich.

 

 

Montag, 02. April 2001

Wenn Fred Müller zu den Vorstandssitzungen des Fußballvereins geht, dann betreibt er Vereinsarbeit. Wenn Gisela Klein des Abends mit ihrem Mann diskutiert, betreibt sie Beziehungsarbeit. Wenn Thomas Meier mit Kindern Fußball spielt, betreibt er Jugendarbeit. Offensichtlich kann man in diesem Land kaum mehr etwas tun, ohne dass es Arbeit ist. Sogar der Urlaub ist nicht mehr Urlaub, sondern Regenerationsarbeit.
Arbeit ist das Zauberwort unserer Tage. Und nicht nur deshalb, weil es zu wenig davon gibt. Sondern weil ein Mensch, der nicht arbeitet, kein Mensch ist. Wer frank und frei seine Freizeit genießt, macht sich verdächtig. Hat der nichts zu arbeiten? Wer ab und zu Zeit für sich und die Lieben braucht, hat nicht einfach ein Recht dazu. Er muss etwas erreichen damit. Wer ehrenamtlich tätig ist, darf das nicht aus Spaß an der Freud tun. Es muss ihm eine heilige Verpflichtung sein.
Arbeit, Leistung, Pflicht. Ohne diese Begriffe kommt keiner mehr aus. Sonst ist er ein Faulenzer und Tagedieb. Und nur die mit den wirklich starken Nerven setzen sich darüber hinweg. Das süße Nichtstun hat ausgedient. Beschäftigung um jeden Preis ist angesagt. Sogar die Freizeit steht unter Leistungsdruck. Als sei der Sinn des Lebens, rührig herum zu wurschteln bis zum bitteren Ende. Und wer am meisten herum wurschtelt, erntet anerkennendes Nicken bei den anderen. Und einen zu hohen Blutdruck bei sich selbst. Aber das nur am Rand.
Die Arbeit ist ein Menschenrecht. Darum kämpfen wir auch so erbittert darum. Ein Recht auf Selbstverwirklichung und Broterwerb. Arbeit um des Menschen willen. Das ist es wert, darum zu kämpfen. Aber dann ist Schluss mit dem Kampf. Arbeit um der Arbeit willen ist kein Plakat und keine Protestnote wert. Leistung hat ihre Grenzen. Nämlich dann, wenn meine Freizeit beginnt. Und wenn ich harmlos vor dem Fernseher sitze, dann will ich harmlos vor dem Fernseher sitzen. Und keine Medienarbeit betreiben.

 

 

Dienstag, 03. April 2001

Wenn bei den Innu, den Ureinwohnern Kanadas, ein Mensch im Sterben liegt, dann sind die Angehörigen rund um die Uhr an seinem Bett. Das Zimmer wird stets sauber gehalten, liebgewordene Gegenstände und Fotos schmücken den Raum. Mit Gebeten und Berührungen versucht die Familie, dem Sterbenden die Reise in das Reich der Geister leichter zu machen. Auch wenn das Monate dauert.
In Europa sterben nach Angaben von Wissenschaftlern 75 Prozent der Menschen allein. In Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Gespräche über den Tod finden eher selten statt. Dazu fehlt es oft an Zeit oder an Mut. Denn wer bei einem Sterbenden ausharrt, der wird konfrontiert mit der eigenen Sterblichkeit. Oder mit der eigenen Trauer. Oder mit der eigenen Angst.
Der Tod gehört zum Leben. Das sagt sich einfach. Und ist sehr schwer zu akzeptieren. Deshalb tun wir unser Möglichstes, ihn in das hinterste Kämmerlein unseres Lebens zu verbannen. In der Hoffnung, dass er irgendwann ganz verschwindet. Das tut er nicht. Und solange er das nicht tut, solange sterben Menschen allein. Weil der Tod kein Thema ist.
Dass das bei den Innu nicht der Fall ist, hängt mit deren Religion zusammen. Sie glauben daran, dass die Seelen der Verstorbenen deren Körper verlassen, um für alle Ewigkeit unter den Lebenden auf der Erde zu wandern. Der Tod ist für die Innu kein Ende, sondern ein Übergang. Ein Übergang in die Welt des Nicht-Sichtbaren. Die aber dennoch da ist. Und dahin geleiten sie ihre Sterbenden. Mit allen Ehren und aller Aufmerksamkeit.
Für viele Menschen in unserer Kultur ist der Tod ein Ende. Und irgendwie ist er das natürlich auch. Er ist das Ende einer Existenz, wie wir sie gewohnt sind. Und dennoch ist er auch nach christlicher Überzeugung ein Übergang. Aber nicht in das Reich der Geister, sondern in das Reich Gottes. Für alle Ewigkeit. Und warum wir unsere Sterbenden nicht dahin geleiten sollten, weiß ich nicht. Denn: Was immer wir auch tun, der Tod ist und bleibt ein Thema.

 

 

Mittwoch, 04. April 2001

Es würde mich doch sehr interessieren, wer der Erfinder des Gedenktages ist. Falls es einen solchen gab. Falls es einen solchen gab, hätte er sich die Idee des Gedenktages patentieren lassen sollen. Dann wären er und seine Nachkommen heute gemachte Leute. Denn es wimmelt nur so von Gedenktagen.
Mitte Januar zum Beispiel gibt es den Familientag. An einem Sonntag, wie sich das für Familien gehört. Es hat ihn wohl auch in diesem Jahr gegeben. Warum nur habe ich nichts davon mitbekommen? Mitte Februar wiederum gibt es den Welttag des Kranken. Der stürzt mich in arge Verwirrung. Werden da neue Medikamente eingeführt oder denken wir nur alle mal an Kranke? Und Ende Februar folgt dann der Welttag des Fremdenführers. Und unter dem kann ich mir nun gar nichts mehr vorstellen.
Heute ist der Tag der älteren Generationen. Allein die Formulierung macht mich stutzig. Dieser Plural. Zunächst tippe ich auf breite Veranstaltungen zum Thema Ahnenforschung. Aber ein Blick ins Netz belehrt mich eines Besseren. Es geht - wie konnte es so einfach sein - um die Senioren und Seniorinnen unserer Gesellschaft. Für die und wegen denen gibt es diesen Tag. Recht so. Schließlich gibt es viele Senioren und Seniorinnen.
Deswegen gibt es auch mehrere Gedenktage. Diesen heute und dann noch einen im Oktober und dann haben wir unlängst erst ein ganzes Jahr zum Thema Alter gehabt. Haben wir doch. Haben wir doch alle gemerkt. Schließlich wurden da so bahnbrechende Erkenntnisse formuliert wie: Es gibt viele ältere Menschen, es wird noch mehr ältere Menschen geben, wir müssen etwas tun für die älteren Menschen. Und es ist schon gut, dass das mal einer gesagt hat. Denn das haben wir ja noch gar nicht gewusst.
Um das einmal klarzustellen: Ich habe nichts gegen Gedenktage. Sie mögen schon ihren Sinn haben. Wenn sie wirklich etwas bewegen. Wenn wirklich etwas passiert bei diesen Gedenktagen. Was Menschen zum Nachdenken bringt. Oder gar zum Handeln. Zum Handeln, das etwas verändert. Dann finde ich Gedenktage gut. Aber falls sie eben doch nur das Gewissen beruhigen, dann ist das heute auch nur ein ganz hundsnormaler Mittwoch.

 

 

Donnerstag, 05. April 2001

Der gute Noah ist mit seiner Arche eine ganze Weile unterwegs. Schließlich regnet es vierzig Tage und Nächte ununterbrochen. Und als der Regen aufhört, da braucht es seine Zeit, bis das Wasser sinkt und Land in Sicht kommt. Jeden Tag schickt Noah eine Taube auf den Weg. In der Hoffnung, dass trockenes Land findet. Und eines Tages ist es soweit. Sie trägt einen Ölzweig im Schnabel. Das große Wasser hat ein Ende, ein neues Leben beginnt.
Das neue Leben beginnt nach der Überlieferung am Berg Ararat. Dort landet Noah. Mit seiner Arche und seiner Familie und all den Tieren. Von jeder Sorte zwei. Und als er gelandet ist, wird er von Gefühlen überwältigt. Freude über die sichere Landung, Neugier auf das neue Land und - Hunger. Noah hat Hunger. Alle haben Hunger. Die erste Mahlzeit auf festem Boden. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Denn auf dem Berg Ararat gibt es keinen Schnellimbiss und keinen Supermarkt. Noch nicht einmal eine Runkelrübe lässt sich finden. Deshalb lässt Noah die Arche von oben bis unten absuchen, alle Lebensmittelreste zusammentragen. Und dann kocht er daraus eine Mahlzeit. Aus Kichererbsen und weißen Bohnen, aus getrockneten Feigen und Aprikosen. Was eben noch so da ist. Nicht gerade ein Festessen, aber dennoch die köstlichste Mahlzeit für alle Beteiligten. Schließlich hat Gott ihnen gerade das Leben gerettet.
Die Geschichte von der Arche Noah steht im Alten Testament. Die Geschichte vom Spontaneintopf stammt aus der islamischen Tradition. Die sunnitischen Moslems begehen nämlich jedes Jahr an einem bestimmten Tag - und der ist heute - einen Festtag zur Erinnerung an die Errettung der Arche Noah bei der Sintflut. Sie kochen diesen Eintopf, der Aschura heißt. Er besteht aus mindestens sieben Zutaten und wird an mindestens sieben Freunde ausgeteilt. Vorzugsweise, wenn sie arm sind. Manches ist eben auch bei unseren religiösen Nachbarn nicht verkehrt.

 

 

Freitag, 06. April 2001

Dr. Kersten - ein Arzt im Wettlauf mit der Zeit. Kinderschwester Angela - eine Frau mit Herz. Dr. Stefan Frank - der Arzt, dem die Frauen vertrauen. Woche für Woche erleben sie Not und Kummer, ringen mit Krisen und Konflikten. Und finden am Ende immer eine Lösung, die die Augen feucht werden lässt. Und das auf wenigen Seiten für ein paar Mark.
Allesamt sind sie Helden in sogenannten Groschenromanen. Die gibt es in jedem Ambiente. Sie spielen im Ärztemilieu oder im Adelsstand, in Bauernhäusern oder in Yuppie-Villen. Und sie haben alle eines gemeinsam: Sie werden verschlungen. Pro Woche gehen fast eine Million dieser Serienromane über den Ladentisch. Und es sind keineswegs nur frustrierte Hausfrauen, die sie lesen. Menschen aus allen Schichten unserer Gesellschaft konsumieren mehr oder weniger verstohlen die verschlungenen Wege des Schicksals in Heftformat.
Kein Wunder: Die meisten Menschen erfahren den lieben langen Tag eine ganze Menge an Problemen und Konflikten, die sich nicht so mir nichts, dir nichts in Wohlgefallen auflösen. Deshalb lieben sie am Feierabend Geschichten, die gut ausgehen. In denen sich Ehepaare nicht zerstreiten bis aufs Messer, sondern sich reuevoll versöhnen. In denen Kinder nicht verprügelt werden, sondern in Elternarme sinken. In denen Fremde zu den besten Freunden werden, die man haben kann.
So spielt das Leben nicht. Klar. Aber so soll es spielen. Wenn es nach unserer Sehnsucht geht. Dass die sich von Zeit zu Zeit in erfundene heile Welten flüchtet, ist gar nicht so schlimm. Was aber ist mit unserer unheilen Welt? Gibt es da keine Geschichten, in denen das Schicksal gute und heilsame Wege gehen kann?
Das Neue Testament erzählt von solchen Geschichten. Und was die von Groschenromanen unterscheidet, ist, dass es um wahre und wirkliche Menschen geht. Deren Leben durch wahrhaftige und ehrliche Liebe eine andere Wendung genommen hat. So wie es auch in meinem Leben passieren kann. Wenn ich nur Groschenromane lese, passiert in meinem Leben eher nix.

 

 

Samstag, 07. April 2001

Eigentlich will ich ja nur die Bundesliga-Ergebnisse wissen. Deswegen bemühe ich den Videotext. Aber irgendwie muss ich die falsche Nummer eingetippt haben. Und so lande ich auf einer Seite mit vielen Herzchen. Nein, es ist nicht das, was Sie denken. Für schlappe 2,42 Mark die Telefonminute soll es um meine Zukunft gehen. Über die ich natürlich schon gerne etwas wüsste. Und hier kann ich Kontakt aufnehmen mit den außergewöhnlichsten Zukunftsdeutern Europas.
Neugierig studiere ich die Videotext-Seite. Und neben Kaffeesatz und Kartenlesen stoße ich auf das Wort "Engelkontakte". Na, das wäre ja ein Ding, wenn ich per Telefon mit Engeln Kontakt aufnehmen könnte. Wo man sich doch insgesamt gesehen gar nicht so einig ist, dass es die überhaupt gibt.
Ich ringe kurz mit meinem Geiz und greife dann zum Hörer. Sanfte Musik erwartet mich am anderen Ende. Und eine noch sanftere Frauenstimme, die wunderschöne Worte haucht. Aber kein Wort von Engeln. Na, vielleicht kommt das noch. Dann ändert sich die Stimme. Jetzt handelt es sich um eine Beraterin, zu der ich live durchgestellt werde. Ein recht unfreundliches "Ja, hallo" erschreckt mich so sehr, dass ich feige auflege. Hm, erster Kontakt mit Engeln gescheitert.
Dieselbe Prozedur noch einmal. Die nächste Beraterin klingt wesentlich freundlicher. Verlegen frage ich nach den Engeln. Und erfahre, dass sie nicht zuständig dafür ist. Und so klicke ich mich durch annähernd 20 Beraterinnen, von denen keine die Engelspezialistin ist. Frustriert lege ich auf. War wohl nichts mit Engeln. Jedenfalls nicht per Telefon.
Also werde ich wohl doch wieder auf die altbewährte Methode zurückgreifen. Nach der ist Gott der große Spezialist für Engel. Und sorgt schon ziemlich lange und ziemlich gut dafür, dass der Kontakt nicht abreißt. Darauf kann ich mich verlassen. Und preiswerter ist es allemal.