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Baden-Württemberg

 

 

 

 

Pfarrer 
Roland Spur
Augustenstr. 124
70197 Stuttgart
Evangelische Kirche

 

 

 

 

Montag, 26. Februar 2001

Gelegenheit macht Diebe

In Sprichwörtern steckt Lebenserfahrung. Erfahrung wird in Sprüchen weitergegeben. "Gelegenheit macht Diebe" ist so etwas nach dem Muster: Tugend ist ein Mangel an Gelegenheit.
Da liegt in einer Telefonzelle ein schwarzes Portmonnaie, mit Geld drin. Was tun? Hat mich jemand gesehen? Im Fundbüro abgeben? Oder behalten, einschieben? Und der Eigentümer? Schicksal. Für mich: Glück oder – ein Geschenk des Himmels. Ausreden sind schnell zur Hand. Dabei wissen wir doch eigentlich alle, was der Himmel will und was er schenkt.
Das Portemonnaie in der Telefonzelle – und was dann? Das ist schon eine beliebte Versuchsanordnung mit versteckter Kamera. Wie ehrlich sind wir eigentlich? Testen wir mal. Die Leute wurden dann ein paar Meter weiter angesprochen, fast alle sagten, sie wollten gerade den Fund melden. Okay.
Gelegenheit macht Diebe – nein, das ist kein Naturgesetz! Und Habgier, die man mit Strafen in Schach halten muss, die lauert nicht in allen Menschen. Als wären wir ihre sichere Beute.
Ich las in der Zeitung (dpa) eine kurze Meldung: Ein Juwelier in Coesfeld hat unfreiwillig die Ehrlichkeit der Bürger in der westfälischen Stadt getestet. Er hatte am Sonnabend sein Geschäft für das Wochenende abgeschlossen und dabei einen kompletten Ständer mit Schmuck auf der Straße stehen lassen. Ein Passant informierte die Polizei. Als der Juwelier am Montag seinen Schmuckständer abholte, fehlte kein einziges Stück. Ihm war seine Vergesslichkeit peinlich: "Mir wäre es lieber gewesen, wenn das einem Angestellten passiert wäre", sagte er der Polizei.
"Mist!" denke ich. Anstatt sich über seine Mitbewohner zu freuen und zu bedanken, dass diese gute Gelegenheit aus ihnen keine Diebe gemacht hat, hat er Mühe damit, dass er selbst einen Fehler gemacht hat. Schade.
Dafür zählt jetzt Ehrlichkeit zum Schmuck von Coesfeld! Schmuck auf offener Straße nicht geklaut! Gelegenheit macht keine Diebe. Eine Zierde für alle in der Stadt.

 

 

Dienstag, 27. Februar 2001

Schwarze Katze

Die Frau sah den Pfarrer auf der anderen Straßenseite. Sie kommt zu ihm rüber: "Herr Pfarrer, ich muss Ihnen was beichten. Ich hab mich nämlich heut‘ morgen so erschrocken, fürchterlich. Wie ich da aus dem Haus komm, huscht doch eine schwarze Katze vor mir quer über den Weg. Von links, Herr Pfarrer! Das muss ich Ihnen beichten."
"Ich versteh Sie nicht ganz."
"Ja, weil ich mich doch so erschrocken hab! Und man darf das doch nicht, nicht so denken. Drum muss ich Sie jetzt aber doch fragen: bringt das Unglück, wenn eine schwarze Katze von links über den Weg springt?"
"Ja und nein. Das kommt darauf an"
"Jetzt versteh‘ ich Sie nicht."
"Wissen Sie, das kommt darauf an, ob Sie eine Maus sind – oder ein Mensch."
Schweigen. – Dann lachen beide.
Aberglauben nennt man das. Schön, wenn man darüber so befreit lachen kann! Aberglauben hat viele Gesichter. Schwarze Katzen kommen weniger vor. Dafür ist Astrologie ziemlich beliebt. Im Grunde allgegenwärtig. Horoskope in Zeitschriften, im Internet, im Fernsehen. Aber wieso soll mein Glück in den Sternen vorgezeichnet stehen? Sie sind doch ziemlich weit weg, und auf die Entfernung: wie sollten sie mich berühren?
Ob Glück in der Liebe, beim Hausbau oder Gebrauchtwagenkauf – allen Ernstes gibt es Leute, die rufen bei so einem Mann in der Sendung an. Der hat vor sich sein Lap-top aufgeklappt und bedient sein Astro-Software-Programm. Sie nennen ihm ihr Geburtsdatum, oder das der Schwiegertochter oder von ihrem Partner. Sie meinen, der sei ihres Glückes "Schmidt", weil er ausdrücken könne, was die Sterne sagen. Dabei werden Sie seelisch zur Maus.
Martin Luther schrieb einmal über die Astrologie:
"Wenn sie sagen, dass ein jedes Zeichen und Gestirn seinen Einfluss habe, besonders auf die Menschen, dass der, der unter einem bestimmten Zeichen geboren ist, eine bestimmte Natur haben, ein bestimmtes Leben führen, einen bestimmten Tod sterben müsse, womit sie alles vorhersagen wollen, wie es einem jeden gehen soll, das ist falsch und erdichtet. Denn sie sind nicht darum geschaffen, dass sie mich meistern, sondern mir zu Nutz und Dienst. Über Tag und Nacht sollen sie regieren, aber über meine Seele sollen sie kein Regiment und Gewalt haben. Der Himmel ist dazu gemacht, dass er Licht und Zeit gebe; die Erde, dass sie uns trage und speise. Mehr können sie nicht von sich geben noch wirken."

 

 

Mittwoch, 28. Februar 200

Gen-Ethik

Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gen Osten hin
Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume,
verlockend anzusehen und gut zu essen,
Und Gott der HERR nahm den Menschen, den er gemacht hatte,
und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.
(1. Mose 2,8-9+15)

Und der Mensch bebaute den Garten fort und fort und hatte gegessen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und der Mensch forschte so lange, bis er eine Pflanze hatte, die er vor dem Gift des Ackers bewahrte.
Und der Mensch ging damit nun hin nach München zum Europäischen Patentamt. Da erhob Greenpeace seine Stimme: "Wie wollt Ihr das Leben patentieren?" Die Wissenschaftler aber im Europäischen Patentamt fühlten sich zu Unrecht angegriffen. Sie machten doch nur ihre Arbeit und haben jetzt ein Patent bestätigt auf gentechnisch veränderte Pflanzen. Die sind resistent gegen ein bestimmtes Unkrautvernichtungsmittel. Und sein Name ist Basta.
Und der Mensch kann nun hergehen und dieses Gen einbauen in Pflanzen wie Mais, Bohnen oder Tomaten. Und der Mensch kann den Garten Eden zur Wüstenei verwandeln. Dass der werde wieder wie zu der Zeit, bevor Gott der HERR Erde und Himmel machte. Da waren alle die Sträucher auf dem Felde noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen.
Und so wird morgen unter dem Gift des Ackers kein Kraut und kein Halm mehr wachsen, außer den Herbizid-Resistenten. Genmanipulierte Pflanzen und Gewinne werden wachsen. Sonst nichts. Denn siehe, Saatgut und Unkraut-Ex kommen aus einer Hand.
Inhaber des Patents EP 275.957 ist die Firma Agrevo. Sie ist eine Tochter des europäischen Chemie-Riesen Aventis mit Sitz in Straßburg. Das Unkrautvernichtungsmittel heißt wirklich "Basta". Basta heißt: Es reicht!

 

Donnerstag, 1. März 2001

Antisemitismus

Ich habe einen Brief bekommen. Ein antisemitisches Pamphlet der übelsten Sorte. Widerwärtig. Unbeschreiblich, der Hass, die Mordphantasien darin. Die Worte, menschenverachtende Hass-Sprache. Michel Friedmann, Paul Spiegel und Reich-Ranitzki werden namentlich genannt. Was ist das Ziel? "Juden raus." Das soll verbreitet werden. Und es wird in dem Brief gewarnt vor Justiz und Polizei, vor Politikern wie Sozis, Grünen und Postkommunisten, vor Gewerkschaftlern und Journalisten, vor Paukern und Sozialarbeitern. Gewarnt wird insbesondere vor den "Vertretern der beiden großen Judenreligionen EKD und katholischer Kirche."
Der Brief wurde anonym aufgegeben, in einem Dorf im Siegerland. Er ist ein Beispiel, dass Fremdenfeindlichkeit und Hetze gegen Juden auch in West-Deutschland vorkommen, und nicht ausschließlich in den neuen Ländern. Ich muss an den gewaltige Anstieg registrierter rechtsextremer Straftaten denken im vergangenen Jahr. Rechts außen ist manchmal in der Mitte von unserm Land.
Wie kommt es denn zu so viel Hass bei uns? Warum sind einige Leute davon beseelt, andere Leute einzuschüchtern, sie an den Rand zu drängen und fertig zu machen, als sei das eine hehre Aufgabe?
Da muss vorher viel schief gelaufen sein in der Biographie dieser Leute. Ich bin nämlich davon überzeugt: Niemand wird geboren, niemand kommt auf die Welt, um eines Tages anderen mit seinen Stiefeln ins Gesicht zu treten. Da müssen mit ihm schlimme Dinge passiert sein. Denn alle Menschen wollen Respekt. Alle Menschen sind in Gottes Augen gleich liebenswert. Alle Menschen sind seine Kinder. Wir sind Geschwister.
Darum kann es nicht angehen, dass ein paar sagen, wir wollen Probleme lösen durch Ausgrenzung von Menschen. Nach dem Schema: bringen wir alle Traurigen um, dann werden wir Fröhlich. Bringen wir die Kranken um, dann werden wir Gesund. Aber das ist krank und inhuman. Das ist das Gesellschaftsmodell des Faschismus.
Aber Gott will, dass allen Menschen geholfen wird, und also niemand ausgegrenzt oder verletzt wird. Gewalt ist keine Lösung. Alles hat Auswirkungen aufs Ganze. "Wer Euch antastet, der tastet meinen Augapfel an!" lässt Gott ausrichten (Sacharja 2,12). Am besten wirken immer noch gelebte Beispiele. Beispiele, wie das geht, dass wir hier respektvoll miteinander leben. Alle Menschen hier haben ein Lebensrecht. Ich bin überzeugt, dass jede und jeder sich dazu gute Gedanken machen kann, was wir dafür tun könnten.

 

 

Freitag, 2. März 2001

"Robinson 2.0 ist Gott los geworden"

Kristallblauer Himmel. Kokos-Palmen. Korallen. Weißer Südseestrand. Ein Mann schwimmt schwerelos im Wasser. Nein, nicht als Urlauber: er ist in voller Montur, er schwimmt auch nicht, er treibt im Wasser das Gesicht nach unten, aufgedunsen. Eine Wasserleiche. Sie wird anschließend am Strand beigesetzt, bestattet. Eine Szene in dem Film »Cast away – Verschollen« mit Tom Hanks, der in den Kinos sehr erfolgreich läuft. Von ihm stammt übrigens auch die Idee zu diesem Film.
Tom Hanks hat für seine Rolle erst 20 Kilo zugenommen! Und dann 30 Kilo abgenommen und nach einem Jahr weitergedreht. Schon beeindruckend. Angeblich identifiziert man sich irgendwie mit dem Hauptdarsteller, vergleicht sich.
Aber vor allem hätte ich etwas anderes nicht gekonnt. Wenn die Idee zum Film von mir gekommen wäre, ich hätte dann nicht so konsequent und so klar eine Hauptfigur ins Drehbuch einbauen können, die keine Religion hat. Jemand, der gottlos - der Gott los geworden ist.
Der Hauptdarsteller, ein Repräsentant meiner Generation. Tom Hanks spielt einen Workaholic, einen Antreiber. Bis er dann abstürzt mit seiner Arbeit. Strandgut Mensch. Buchstäblich im Film. Erst er, und dann auch noch sein Freund, der tote Flugkapitän. Strandgut Mensch. Ein Begräbnis am Strand. Tom Hanks sagt auch was, nur zwei Worte: "Das war’s."
Schöner Schock im Kino! Würde ich denn in so einer Situation auch nichts mehr zusammenbringen? Oder: Wird jemand an meiner Beerdigung auch mal bloß "Das war’s" sagen? Sonst nichts? Gibt’s denn dann niemanden, dem noch was anderes einfällt? »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln..., und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.« Psalm 23 wäre nicht schlecht. Oder ein Vaterunser. Ja, alte Formeln.
Ich glaube, hier wird mit dem Filmheld von »Cast away – Verschollen« unserer Zeit schlüssig und mutig ein Spiegel vorgehalten: So sieht es dann aus, bei einer Bestattung: "Das war’s" – Keine Religion. Kein Gebet. Kein Trost. Kein Anbefehlen eines Gestorbenen in die Hände Gottes.
Wir Christen glauben: »Gott rief mich ins Leben, und er wird mich irgendwann wieder zu sich nehmen. Was auch passiert: Wir gehen bei Gott nicht verloren.«
Ich wünsch‘ mir am Schluss nicht jemand mit seinem: "Das war’s" – wie ein gigantisches "Verschollen - Cast away". Sondern lieber – wie es das alte Wort sagt: Heimgegangen.

 

 

Samstag, 3. März 2001

Tom Hanks als Repräsentant unserer Zeit

Tom Hanks, der Oskarpreisträger, spielt in seinem neuen Film »Cast away – Verschollen« einen arbeitswütigen Expresszusteller. Chuck Noland, wie er in dem Film heißt, den hält es nicht zuhause. Nicht mal Weihnachten oder gar wegen seiner Verlobung. Immer angetrieben. Er muss los. So hat Noland hat kein Sitzfleisch, keine Heimat, kein Land. Logisch, er lässt global arbeiten. Sein Leben ist Beschleunigung.
Bis dann Chuck Noland mit seiner Fracht abstürzt. Er überlebt als einziger, wird an eine Südseeinsel gespült. Sein Inselabenteuer beginnt, ein Robinson-Dasein. Vier Jahre soll es dauern.
Im Gegensatz zu seinem Vorbild Robinson Crusoe fehlt hier in »Cast away – Verschollen« Gott. Der erste Robinson vom alten Daniel Defoe, der hat gebetet, immer wieder, all die Jahre auf seiner Insel, dass Gott ihm die Kräfte gibt, die er braucht, um diese auferlegte schwere Prüfung zu bestehen.
Aber unser moderner Robinson alias Chuck Noland, der betet nicht, gar nicht. Das ist mir aufgefallen: Kein Gebet. Weder während des minutenlangen, realistisch gezeigten Flugzeug-Absturzes, noch später eine Zwiesprache mit Gott. Nicht mal so ein "Jesus!"-Fluch oder ein Stoßgebet. Und als er den Freund bestattet, auch kein Gebet, wie das üblicherweise im Western vorkommt.
Wie steht er die unabsehbare Zeit seiner Paradiesgefangenschaft durch? Einmal verletzt er sich beim Versuch, Feuer zu machen, und haut seine blutige Hand im Schmerz auf einen Volleyball. In dem Abdruck sieht er dann ein Gesicht, eine Art blutiges Smily. Und mit diesem Ballgesicht spricht er dann, "Wilson" redet er ihn an. Den "Sohn seines Willens".
Eine Ware als Gottersatz, ein Konsumgut als Ersatzgott. Wilson.
Chuck Noland als moderner Robinson hat auch keine Hoffnung, sondern lässt ein Paket verschlossen. Das muss er noch zustellen. Dafür lebt er. Nach seiner Rettung wird er auf die Liebe seines Lebens verzichten, kein Wunder. Auch nicht, dass er dieses eine Paket noch ausliefert. Aber dann – dann steht er da, in der Prärie. Was nun? Wie weiter? Wege bis zum Horizont offen.
Ich höre eine in dem Film Anfrage an mich: Arbeitest Du, um zu leben? Sind workaholics so geworden, weil ihr Gottvertrauen so klein ist? Wie ist denn das bei mir, bei Ihnen: Dreht sich unser Leben hauptsächlich um die Arbeit?